6: Konferenzpapiere
Entschließung: Keine Vorratsdatenspeicherung in der Telekommunikation
70. Konferenz
der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder
am 27. und 28. Oktober 2005 in der Hansestadt Lübeck
Entschließung
Keine Vorratsdatenspeicherung in der Telekommunikation
Die Europäische Kommission hat den Entwurf einer Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten über die elektronische Kommunikation vorgelegt. Danach sollen alle Telekommunikationsanbieter und Internet-Provider verpflichtet werden, systematisch eine Vielzahl von Daten über jeden einzelnen Kommunikationsvorgang über einen längeren Zeitraum (ein Jahr bei Telefonaten, sechs Monate bei Internet-Nutzung) für mögliche Abrufe von Sicherheitsbehörden selbst dann zu speichern, wenn sie diese Daten für betriebliche Zwecke (z. B. zur Abrechnung) gar nicht benötigen. Die Annahme dieses Vorschlags oder des gleichzeitig im Ministerrat beratenen, weiter gehenden Entwurfs eines Rahmenbeschlusses und ihre Umsetzung in nationales Recht würde einen Dammbruch zulasten des Datenschutzes unverdächtiger Bürgerinnen und Bürger bedeuten. Sowohl das grundgesetzlich geschützte Fernmeldegeheimnis als auch der durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantierte Schutz der Privatsphäre drohen unverhältnismäßig eingeschränkt und in ihrem Wesensgehalt verletzt zu werden.
Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder bekräftigen ihre bereits seit 2002 geäußerte grundsätzliche Kritik an jeder Pflicht zur anlassunabhängigen Vorratsdatenspeicherung. Die damit verbundenen Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis und das informationelle Selbstbestimmungsrecht lassen sich auch nicht durch die Bekämpfung des Terrorismus rechtfertigen, weil sie unverhältnismäßig sind. Insbesondere gibt es keine überzeugende Begründung dafür, dass eine solche Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft zwingend notwendig wäre.
Die anlassunabhängige Vorratsdatenspeicherung aller Telefon- und Internetdaten ist von großer praktischer Tragweite und widerspricht den Grundregeln unserer demokratischen Gesellschaft. Erfasst würden nicht nur die Daten über die an sämtlichen Telefongesprächen und Telefax-Sendungen beteiligten Kommunikationspartner und –partnerinnen, sondern auch der jeweilige Zeitpunkt und die Dauer der Einwahl ins Internet, die dabei zugeteilte IP-Adresse, ferner die Verbindungsdaten jeder einzelnen E-Mail und jeder einzelnen SMS sowie die Standorte jeder Mobilkommunikation. Damit ließen sich europaweite Bewegungsprofile für einen Großteil der Bevölkerung für einen längeren Zeitraum erstellen.
Die von einigen Regierungen (z.B. der britischen Regierung nach den Terroranschlägen in London) gemachten Rechtfertigungsversuche lassen keinen eindeutigen Zweck einer solchen Maßnahme erkennen, sondern reichen von den Zwecken der Terrorismusbekämpfung und der Bekämpfung des organisierten Verbrechens bis hin zur allgemeinen Straftatenverfolgung. Alternative Regelungsansätze wie das in den USA praktizierte anlassbezogene Vorhalten ("Einfrieren" auf Anordnung der Strafverfolgungsbehörden und "Auftauen" auf richterlichen Beschluss) sind bisher nicht ernsthaft erwogen worden.
Mit einem Quick-freeze Verfahren könnte man dem Interesse einer effektiven Strafverfolgung wirksam und zielgerichtet nachkommen.
Der Kommissionsvorschlag würde zu einer personenbezogenen Datensammlung von beispiellosem Ausmaß und zweifelhafter Eignung führen. Eine freie und unbefangene Telekommunikation wäre nicht mehr möglich. Jede Person, die in Zukunft solche Netze nutzt, würde unter Generalverdacht gestellt. Jeder Versuch, die zweckgebundene oder befristete Verwendung dieser Datensammlung auf Dauer sichern zu wollen, wäre zum Scheitern verurteilt. Derartige Datenbestände würden Begehrlichkeiten wecken, aufgrund derer die Hürde für einen Zugriff auf diese Daten immer weiter abgesenkt werden könnten. Auch aus diesem Grund muss bereits den ersten Versuchen, eine solche Vorratsdatenspeicherung einzuführen, entschieden entgegengetreten werden. Zudem ist eine Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung auch auf Inhaltsdaten zu befürchten. Schon jetzt ist die Trennlinie zwischen Verkehrs- und Inhaltsdaten gerade bei der Internetnutzung nicht mehr zuverlässig zu ziehen. Dieselben – unzutreffenden – Argumente, die jetzt für eine flächendeckende Speicherung von Verkehrsdaten angeführt werden, würden bei einer Annahme des Kommissionsvorschlags alsbald auch für die anlassfreie Speicherung von Kommunikationsinhalten auf Vorrat ins Feld geführt werden.
Die Konferenz appelliert an die Bundesregierung, den Bundestag und das Europäische Parlament, einer Verpflichtung zur systematischen und anlasslosen Vorratsdatenspeicherung auf europäischer Ebene nicht zuzustimmen. Auf der Grundlage des Grundgesetzes wäre eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung verfassungswidrig.