4.8 Steuerverwaltung
4.8.1 Verfassungsbeschwerde: Kontenabruf
Die Kontenabfrage wurde im April 2005 in Betrieb genommen. Die Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des Verfahrens sind bisher nicht ausgeräumt worden.
Schon im letzten Jahr forderten wir eine Überprüfung und Überarbeitung des Gesetzes zur Förderung der Steuerehrlichkeit (27. TB, Tz. 4.9). Durch dieses Gesetz erhalten Finanzbehörden und Sozialämter, BAföG-Stellen, Arbeitsagenturen sowie weitere Sozialleistungsträger die Befugnis, auf die Stammdaten von sämtlichen ca. 50.000.000 Bankkonten und Wertpapierdepots in Deutschland in automatisierter Form zuzugreifen. Die Kreditinstitute sind verpflichtet worden, eine entsprechende Datei vorzuhalten. Abrufbar sind die Adresse, das Geburtsdatum sowie die Nummer sämtlicher Bankkonten, Wertpapierdepots und Bausparverträge bei allen Instituten sowie Datum von Eröffnung und Abschluss der Konten. Auf die Kontenstände und Bewegungen kann auf diese Weise nicht zugegriffen werden.
Durch das Gesetz wird in mehrfacher Weise unverhältnismäßig in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen eingegriffen:
- Das Gebot der Normenklarheit ist verletzt. Eine Behörde wird nach dem Gesetz zur Kontenabfrage ermächtigt, wenn sie ein Gesetz anwendet, das "an Begriffe des Einkommenssteuergesetzes" anknüpft, und wenn eigene Ermittlungen der Behörde angeblich nicht zum Ziel geführt haben oder keinen Erfolg versprechen. Es ist für den Bürger überhaupt nicht ersichtlich, welche Behörden unter welchen Voraussetzungen zur Abfrage tatsächlich berechtigt sind.
- Das verfassungsrechtliche Gebot der Transparenz ist verletzt. Der Betroffene erhält von Abfragen keine Kenntnis, es sei denn, es werden weitere Ermittlungen direkt bei ihm aufgrund des Abrufes getätigt.
- Das Gesetz verstößt gegen das Gebot der Zweckbindung. Bankdaten werden für Zwecke der Besteuerung und für die Berechnung von Sozial- und staatlichen Leistungen genutzt. Diese Zweckänderung muss jedoch im konkreten Einzelfall durch überwiegende Gemeinwohlbelange gerechtfertigt sein. Dies ist hier schon fraglich, weil das Vertrauensverhältnis zur Bank erheblich beeinträchtigt ist. Hinzu kommt, dass die Kontendaten über die Finanzbehörden abgefragt werden und an die anderen Behörden zur Berechnung der sozialen Leistungen weitergereicht werden, mit denen die Finanzbehörden sonst nichts zu tun haben. Die zweckwidrige Nutzung von Daten unter dem Steuergeheimnis, durch das Steuerehrlichkeit gewährleistet werden soll, kann nicht im Interesse der Finanzverwaltung liegen.
Über Beschwerden gegen das Gesetz wird das Bundesverfassungsgericht voraussichtlich im Jahr 2006 entscheiden. Dieses hatte sich bereits kurz vor In-Kraft-Treten des Gesetzes im April 2005 mit der Kontenabfrage im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu befassen. Es hatte abzuwägen, ob die Nachteile, die durch einen rechtswidrigen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte Dritter entstehen, schwerer wiegen als der Schaden, der entstünde, wenn das Verfahren rechtmäßig wäre und nicht eingesetzt werden würde.
In Erwartung dieser einstweiligen Anordnung sah sich das Bundesfinanzministerium gezwungen, einen Anwendungserlass zur Konkretisierung des Gesetzes herauszugeben. Dieser sieht u. a. vor, dass
- ein Abruf der Kontenstammdaten nur anlassbezogen und zielgerichtet und unter Bezugnahme auf eindeutig bestimmte Personen zulässig ist,
- die Betroffenen in verschiedenen Verfahrensstadien zu benachrichtigen sind,
- im Bereich der Sozialverwaltung, die über das Finanzamt Zugriff auf die Kontendaten erhalten werden, Einschränkungen gelten,
- ein Kontenabruf als nicht zulässig gilt, wenn es zur Aufklärung des Sachverhaltes ein ebenso geeignetes, aber für den Betroffenen weniger belastendes Beweismittel gibt, etwa die Auskunft durch den Betroffenen.
Allein diese Nachbesserungen per Erlass haben bewirkt, dass das Bundesverfassungsgericht das Kontenabfrageverfahren vorläufig zugelassen hat. Es betonte, dass der Ausgang des Beschwerdeverfahrens offen sei. Mögliche Mängel des Gesetzes würden durch den Anwendungserlass "derart abgemildert, dass eine einstweilige Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht vor der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden nicht geboten" sei. Dessen ungeachtet kann ein Erlass ein Gesetz nicht verfassungskonform machen. Die Konkretisierungen des Erlasses müssten in das Gesetz aufgenommen werden. Davon ist aber derzeit keine Rede mehr. Das ULD vertritt darüber hinaus die Ansicht, dass das Verfahren insgesamt in unverhältnismäßiger Weise in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreift. Darüber wird das Gericht im Hauptsacheverfahren entscheiden.
4.8.2 Einsicht in Steuerakten für Betroffene
Noch immer enthält die Abgabenordnung keinen Rechtsanspruch auf Akteneinsicht für Betroffene. Noch immer verweigert die Finanzverwaltung ihren Steuerbürgerinnen und Steuerbürgern systematisch das diesen verfassungsrechtlich zustehende Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
Wieder einmal wurde das Ersuchen eines Betroffenen um Einsicht in seine Steuerakte mit der Begründung abgelehnt, in der Abgabenordnung gäbe es keinen Anspruch auf Akteneinsicht im steuerlichen Verwaltungsverfahren (27. TB, Tz. 4.9.1). Diese zweifellos formal richtige Feststellung ändert nichts daran, dass der Steuerpflichtige einen verfassungsrechtlichen Anspruch auch gegenüber dem Finanzamt auf Kenntnis hat, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß. Mindeststandard ist die Gewährung von Akteneinsicht nach pflichtgemäßem Ermessen, wobei die Interessen der Behörde gegen die Belange des Betroffenen abzuwägen sind.
Uns gegenüber legte der Betroffene nicht nur ein allgemein persönliches, sondern ein besonderes rechtliches Interesse an der Akteneinsichtsgewährung schlüssig dar. Offensichtlich sollte die Frage der Steuerpflicht seiner Aufwandsentschädigung auch mit Wirkung für die Vergangenheit neu bewertet werden. Diese war mehr als ein Jahrzehnt lang als steuerfrei anerkannt worden. Zur Verfolgung seiner Ansprüche wollte der Betroffene nun prüfen, ob und wie intensiv seine Angaben in den vergangenen Jahren überprüft worden waren. Das Finanzamt hielt generell und grundsätzlich dagegen, es müsse prüfen, ob ein Geheimhaltungsinteresse Dritter beeinträchtigt sein könne; gegebenenfalls müssten das gesamte Kontrollmaterial, behördeninterne Vermerke, Anweisungen und Ähnliches aus den Akten entfernt werden, was zu einem erheblichen Verwaltungsaufwand der Behörde führe.
Die Beurteilung der Geheimhaltungsinteressen Dritter sowie des Verwaltungsaufwands darf nicht abstrakt generell erfolgen, sondern muss sich auf den konkreten Einzelfall beziehen. Belange Dritter waren nicht einmal im Ansatz erkennbar. Auch war nicht ersichtlich, weshalb es erforderlich sein sollte, das gesamte Kontrollmaterial, behördeninterne Vermerke, Anweisungen und Ähnliches aus den Akten zu entfernen. Eine Gefährdung des Ermittlungsinteresses der Finanzbehörde durch die Gewährung der Akteneinsicht konnte damit jedenfalls nicht verbunden sein. Das Finanzamt ließ sich endlich erweichen und gewährte die erbetene Akteneinsicht.
Was ist zu tun?
Finanzbehörden müssen ihre bürgerfeindliche Praxis ändern, auch wenn die Abgabenordnung nicht geändert wird. Sie dürfen Akteneinsichtsbegehren nach pflichtgemäßem Ermessen nur ablehnen, wenn die Durchführung des Besteuerungsverfahrens tatsächlich gefährdet wäre oder konkrete Geheimhaltungsinteressen Dritter entgegenstehen.
4.8.3 Grundsteuerdaten für den ehrenamtlichen Bürgermeister
Viele Kommunen vermuten, dass die Einheitswerte für die Bemessung der Grundsteuer nicht mehr den aktuellen Verhältnissen vor Ort entsprechen. Eine Überprüfung dieser Werte durch ehrenamtliche Bürgermeister ist allerdings kein zulässiges Mittel zur Verbesserung der Einnahmesituation der Gemeinden.
Ein ehrenamtlicher Bürgermeister erbat von seiner Amtsverwaltung eine komplette Liste aller Grundsteuerpflichtigen seiner Gemeinde mit genauer Angabe der Lage des jeweiligen Grundstücks und des Steuerbetrags. Diese Liste sollte ihm zur Einschätzung einer sachgerechteren Besteuerung im Interesse des Gemeindehaushalts dienen. Der Bürgermeister meinte, dass insbesondere bei älteren Gebäuden, die später – teilweise auch ohne Baugenehmigungserfordernis – aus- bzw. umgebaut worden sind, eine ungerechte Besteuerungslage entstanden sei. Die Ursache vermutete er in durch das Finanzamt nicht aktualisierten Messbeträgen – die Grundlage für die Berechnung der Grundsteuer.
Die Gemeindeordnung enthält zwar ein allgemeines Auskunfts- und Akteneinsichtsrecht für kommunale Mandatsträger, dieses steht jedoch bei der Weitergabe personenbezogener Daten unter dem Vorbehalt der Erforderlichkeit zur rechtmäßigen Erfüllung der durch Rechtsvorschrift zugewiesenen Aufgaben der empfangenden Stelle. Die begehrten Informationen mussten also in einem funktionalen Zusammenhang zur konkreten Aufgabenerfüllung des Mandatsträgers stehen.
Zur generellen Beurteilung der Einnahmesituation der Gemeinde im Rahmen der Vorbereitung auf die Haushaltsplanberatungen hätten allgemeine Angaben zum Haushaltsvollzug des Vorjahres sowie gegebenenfalls anonymisierte Daten mit Hinweisen zu den Veränderungen gegenüber den Vorjahren ausgereicht. Der Bürgermeister begehrte die Daten, die zudem dem Steuergeheimnis unterliegen, aber wohl zur Kontrolle der konkreten Grundsteuermessbeträge. Für diese Aufgabe war nun der Bürgermeister beim besten Willen nicht zuständig, weshalb sein Auskunftsersuchen abgelehnt werden musste.
Was ist zu tun?
Amtsverwaltungen müssen vor der Weitergabe personenbezogener Daten an kommunale Mandatsträger im Rahmen ihrer Auskunfts- und Akteneinsichtsrechte sorgfältig prüfen, ob die begehrten Daten in einem funktionalen Zusammenhang zur konkreten Aufgabenerfüllung der Mandatsträger stehen.
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