23. Tätigkeitsbericht (2001)



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Der Weg in die Informationsgesellschaft


Alles Big Brother, oder was?

Die Aufregung war groß, als RTL II im Frühjahr 2000 seine 100-Tage-Life-Show "Big Brother" ankündigte. Zehn junge Frauen und Männer wurden in einen Käfig - Container genannt - gesperrt und rund um die Uhr von Kameras in jedem Winkel beobachtet. Die Bilder konnten im Internet und als Zusammenfassung des letzten Tages zur besten Einschaltzeit im Fernsehen verfolgt werden. Viele "Alte" waren ent- und viele "Junge" begeistert.

Traumhafte Einschaltquoten wurden zunächst erreicht, und das gerade bei dem idealen Zielpublikum der Werbung, nämlich den 14- bis 25-Jährigen. Die Begeisterung wurde eher bestärkt als getrübt, als Medienwächter einen verzagten Versuch unternahmen, die Sendung zu verbieten. Das Sendeformat verstoße gegen den wichtigsten Artikel unseres Grundgesetzes, in dem es heißt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Sie forderten Zensur, obwohl es in einem anderen Grundgesetzartikel heißt: "Eine Zensur findet nicht statt."

Auch wir äußerten uns zu dem den intimitätslüsternen Voyeurismus fördernden Medienexperiment öffentlich. Dabei ging es uns weniger um den Schutz der freiwillig Eingesperrten, die dem Ausverkauf ihrer Intimsphäre zugestimmt haben, als um eine schleichende Veränderung unseres gesellschaftlichen Bewusstseins: Mit "Big Brother" werden um eines kurzfristigen Quotenvorteils willen Schamgrenzen beim Eindringen in den sensiblen Bereich der Wohnung beseitigt. Es wird ein gesellschaftliches Bewusstsein suggeriert und propagiert, wonach die Privatsphäre nur noch wenig wert sei.

Vielleicht kann die Sendung aber auch bei den Zuschauern das Gespür dafür wecken, was wir auf jeden Fall verhindern sollten: den realen "Big Brother", so wie ihn George Orwell in seinem berühmten Roman "1984" beschrieben hat. Anderen Leuten amüsiert dabei zuzusehen, wie sie ihre Privatsphäre verkaufen, ist eine Sache - selbst das unfreiwillige Opfer von Beobachtung und Ausspähung zu sein, ist etwas ganz anderes. Vermutlich wurde manchen bei diesem Sendeformat klar, warum die Datenschutzbeauftragten gegen den Großen Lauschangriff erbitterten Widerstand geleistet haben und weshalb sie sich der Zulassung von staatlichen Videokameras in Privatwohnungen entgegenstemmen. Mag sein, dass die Privatsphäre einigen nicht mehr wert ist als eine TV-Gage; die Mehrzahl der Fernsehzuschauer würde so etwas in ihrer Privatwohnung aber wohl nicht zulassen. Schon gar nicht würden sich die Menschen damit abfinden, wenn ihre Wohnungen heimlich und gegen ihren Willen beobachtet würden.

Die Versuche, mit rechtlichen oder moralischen Argumenten gegen die Abstimmung über die Fernbedienung anzukommen, waren zunächst eher hilflos. Bei allem Respekt vor der Programmautonomie der Fernsehzuschauer: Wenn es nur noch auf die Quote ankäme, müssten wir uns demnächst vermutlich auf Liveübertragungen aus den Hinrichtungszellen der amerikanischen Gefängnisse und ähnlich sensationelle, "unterhaltsame" Bilder gefasst machen.

Big Brother is really watching you

Wichtig bleibt aus der Sicht des Datenschutzes die durch "Big Brother" u. Ä. angeregte Diskussion zu der Frage, ob es in der Informationsgesellschaft überhaupt noch ein Privatleben gibt. Kurz bevor RTL II mit seiner Reality-Soap auf Sendung ging, wurde der Große Lauschangriff, das polizeiliche Eindringen in die private Wohnung zum Zweck der akustischen Überwachung, vom Gesetzgeber freigegeben. Selbst als einige Polizeivertreter zusätzlich den Großen Spähangriff - die heimliche optische Wohnungsüberwachung - forderten, war angesichts dieses massiven Angriffs auf die räumliche Privatsphäre von öffentlicher Empörung der Bevölkerung - in ihrer räumlichen Privatsphäre vor dem Bildschirm sitzend - wenig zu spüren. Viele waren vom Trommelfeuer der ständigen "Rekordmeldungen" aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität mürbe oder glaubten, sie selbst könnten nie betroffen sein.

Die im Herbst 2000 in Essen organisierte Security-Messe zeigte, dass Lausch- und Spähangriffen immer weniger technische Hindernisse im Wege stehen: Mit versteckten Minikameras können gestochen scharfe Farbbilder in vielfacher Vergrößerung auf den Bildschirm gezaubert werden; mit Infrarot lassen sich selbst den Blick versperrende Kleidungsstücke oder sonstige Hindernisse wegzaubern. Geradezu genial erscheinen elektronische Mustererkennungsverfahren, mit denen so genannte intelligente Kameras im Supermarkt oder in der Tiefgarage "reguläres" von "verdächtigem" Verhalten unterscheiden. Soeben wurde anlässlich des Football-Endspiels in den USA, dem "Super-Bowl", ein weiteres faszinierendes Videoexperiment durchgeführt: An den vier Eingängen wurden Kameras installiert, die von jedem der über 70.000 Zuschauer mehrere Bilder aufnahmen, die automatisch mit einem polizeilichen Bildfahndungscomputer abgeglichen wurden. Und tatsächlich hatte man 19 "Treffer", davon 18 "kleine Fische", die man laufen ließ. Der Einzige, für den sich die Polizei ernsthaft interessierte, war in der Masse nicht mehr zu finden. Aber das ist bald auch kein technisches Problem mehr: Ein einmal per Kamera identifizierter "Verdächtiger" kann von Kameras lückenlos automatisch weiterverfolgt werden, vorausgesetzt, es gibt genügend Kameras.

Auch in Deutschland ist die Videobeobachtung auf dem Vormarsch. Überall werden Kameras aufgestellt oder als so genannte Dom-Kameras in "Lampenkugeln" versteckt, sodass das ganze Ausmaß der Beobachtung von den Menschen auf der Straße gar nicht mehr bemerkt werden kann. Für jede dieser Kameras mag es im Einzelfall eine nachvollziehbare Begründung geben, in ihrer Gesamtheit führen sie gleichwohl zu einer Struktur, an der "Big Brother" tatsächlich seine Freude haben könnte. Die Beobachtung beschränkt sich auch nicht auf den Einsatz von Kamera und Mikrofon. Lange bevor Boris Becker "drin" war, waren schon Millionen von Menschen im Internet, um sich zu unterhalten und zu informieren. Dass bei dieser Gelegenheit ihr Surfverhalten von Webseiten-Betreibern minuziös beobachtet wird, ist den meisten heute noch nicht bewusst. Und wer hat sich schon darüber Gedanken gemacht, dass die schicken Kundenkarten, mit denen man Bonuspunkte sammeln und Geld sparen kann, geeignet sind, um detaillierte Konsumprofile von ihren Nutzerinnen und Nutzern zu erstellen? Nicht zu reden von den Handys, mit denen es technisch kein Problem ist, den tatsächlichen Aufenthaltsort des Benutzers recht genau einzugrenzen. Auch das, was per SMS ausgetauscht wird, muss nicht ein Geheimnis der Nutzer bleiben. Das Mitlesen und Abfangen dieser Nachrichten ist nicht nur der Polizei möglich.

Was ist heute noch Privatsphäre?

Die Bedrohungen der Privatsphäre kommen von allen Seiten und haben auch im Berichtsjahr keineswegs nachgelassen. Eigentlich hat sich an Schutz und Missachtung der Privatsphäre seit hundert Jahren im Kern nicht viel geändert. Als damals ein Paparazzo sich in das Totenzimmer des früheren Reichskanzlers Otto von Bismarck schlich und Fotos schoss, um diese gegen Bares in der Presse zu veröffentlichen, reagierte der Reichsgesetzgeber sofort und erließ das Kunsturhebergesetz, in dem u. a. das Recht am eigenen Bild garantiert wird. Das Gesetz gilt noch heute. Das Recht am eigenen Bild ist immer noch relevant, z. B. wenn heute Schulen Klassenbilder im Internet veröffentlichen, Journalisten versteckte Kameras installieren oder Videoüberwachung in einer öffentlich zugänglichen Einkaufszone stattfindet.

Dennoch hat sich mit der modernen Informations- und Kommunikationstechnik einiges geändert. Sie erlaubt viel tiefere Eingriffe in die Privatsphäre als noch vor 5, 10 oder 20 Jahren und zugleich deren weltweite Verbreitung, z. B. über das Internet. Das führt zwangsläufig dazu, dass wir tagtäglich mit Intimitäten von Menschen konfrontiert werden, mit denen wir persönlich überhaupt nichts zu tun haben. Dies kann die Familie eines Tennisstars sein, aber auch jemand, dessen Prominenz sich darauf beschränkt, zufällig ins Blickfeld einer Kamera gelaufen zu sein. Solange wir selbst diese betroffene Person nicht sind, ist der Blick in die Privatsphäre des anderen für viele offenbar unterhaltsam bis spannend. Ein bisschen Voyeurismus ist überall.

Neu ist der ausgeprägte Exhibitionismus. War es zu Zeiten des Schwarz-Weiß-Fernsehens mit drei Programmen praktisch unmöglich, den eigenen Geltungsdrang über Medien zu befriedigen - Derartiges konnte nur im engen sozialen Umfeld ausgelebt werden -, so eröffnen zig TV-Kanäle, Websites, Chatrooms usw. ganz neue Möglichkeiten der Selbstdarstellung. Damit einher ging eine Enttabuisierung in unserer Gesellschaft: War in den 60er-Jahren ein entblößter Busen im Film ein nationaler Skandal, so muss man sich heute schon kesser präsentieren, um öffentlich wahrgenommen zu werden. Dabei hat das, als was man sich medial darstellt, oft nur noch wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Da der Exhibitionismus nicht Halt macht vor dem eigenen sozialen Umfeld, können gelegentlich große Probleme entstehen. Man gibt sich nicht nur selbst - unter Umständen der Lächerlichkeit - preis, betroffen sind dann auch schon mal Freunde, Verwandte oder sonstige nahe stehende Personen. Viele scheinen sich nicht darüber bewusst zu sein, welche persönlichen Folgen ihre Selbstdarstellung für sie selbst und ihr Umfeld hat. Soziale Isolation, Depressionen oder sonstige negative Folgen sind für die Medien regelmäßig nicht mehr berichtenswert, schon gar nicht, wenn sie auf Medienberichte zurückgehen.

Das Bedürfnis nach Privatsphäre ist ein urmenschliches Bedürfnis, das in den verschiedensten Ländern und Kulturen - teilweise sehr unterschiedlich - befriedigt wird. Auch die Technik hat insofern den Menschen nicht geändert. So ist es z. B. verblüffend, wie sensibel manchmal gerade solche Politiker reagieren, wenn die eigene Privatsphäre berührt ist, die ansonsten bei Eingriffen in die Privatsphäre anderer nicht gerade zimperlich und äußerst geübt in der medialen Selbstdarstellung sind. Es spricht vieles dafür, dass die Sensibilität für die Privatsphäre anderer in unserer Mediengesellschaft nachlässt. Zwar erlebt man die eigene Gefährdung; doch solange es nur andere trifft, gibt es keine Veranlassung, sich Gedanken zu machen. Wenn es einen tatsächlich trifft, ist es zu spät. Solidarität nimmt ab; neugieriges, belustigtes oder teilnahmsloses Zuschauen oder gar das bewusste Wegschauen nimmt zu.

Dabei scheint es keine Grenzen zu geben: So spekulierte z. B. eine im Allgemeinen als seriös angesehene Zeitschrift in scheinbar wissenschaftlicher Weise darüber, ob ein bestimmter Adliger nicht vielleicht ein "Prügel-Gen" in sich trägt. Nun sind genetische Veranlagungen etwas sehr Persönliches, was nicht auf die Titelseiten der Yellow Press gehört. Aber damit nicht genug: Schon heute ist es möglich, anhand eines ausgerissenen Haares eine genetische Analyse für wenige Hundert Mark vornehmen zu lassen. Wann werden wir den ersten Fall erleben, in dem ein gestohlenes Haar einer interessierenden Person analysiert und das Analyseergebnis auf allen Kanälen vermarktet wird?

Ein Blick in andere scheinbar zivilisierte Länder ist wenig ermutigend. So gibt es in den USA offensichtlich keine Scham, Videobilder aus einem Gefängnis direkt ins Internet zu übertragen. Es gibt Firmen, die offen im Internet damit werben, sie könnten für 50 Dollar detaillierte Informationen auch sensibelster Art über beliebige Mitbürger liefern. In Großbritannien gibt es Stadtteile, in denen inzwischen sämtliche öffentliche Straßen videoüberwacht werden. Dass beim Hobeln an der Privatsphäre auch Späne fallen können, zeigte die Veröffentlichung von Namen und Bildern von verurteilten Sexualtätern im Internet und durch eine englische Tageszeitung. Der dadurch angestachelte Mob demonstrierte vor Häusern von Menschen, die zufällig so aussahen wie die Angeprangerten oder den gleichen Namen hatten. Diese Aktion verhinderte zwar kein Sexualdelikt, provozierte aber zwei Selbsttötungen.

Verletzungen des Datenschutzes und der Privatsphäre hinterlassen zumeist keine direkt sichtbaren, aber dennoch gravierende Spuren bei den Menschen. Verfolgungswahn kann die Folge sein oder auch "nur" Angst, soziale Gehemmtheit und Gleichgültigkeit gegenüber anderen. Neben diesen bei einer Medienfolgenabschätzung festzustellenden individuellen Konsequenzen gibt es auch gesellschaftliche Folgen des Einbruchs in die Privatsphäre. Vor knapp zwanzig Jahren hat das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben, dass die technische Beobachtung zu Verunsicherung bei den Betroffenen führt und letztendlich dazu, durch abweichende Verhaltensweisen möglichst nicht auffallen zu wollen. Ein dadurch bedingter Verzicht auf die Ausübung von Grundrechten würde - so das Gericht - das Gemeinwohl beeinträchtigen, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten demokratischen Gemeinwesens ist.

Jetzt erst recht Datenschutz

"Big Brother" von RTL II kokettierte mit der Assoziation zu George Orwells "Big Brother is watching you" aus dem Roman "1984", als wäre es schick oder besser hip, ein bisschen allwissende Diktatur zu spielen und dabei auch noch Geld zu verdienen. Der Informationswert solcher Fernsehformate tendiert gegen null. Wer dies für sich festgestellt hat, sollte bei solchen Sendungen abschalten. Dabei kann es aber nicht sein Bewenden haben. Das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz versteht es als eine seiner Aufgaben, sich hierzu in öffentlicher Diskussion zu äußern. Ein Engagement für Datenschutz ist angesichts der Herausforderungen im Betrieb und in der Freizeit, in der virtuellen und in der realen Welt zugleich ein Engagement für eine menschlichere Gesellschaft. Angesichts neuer Techniken müssen wir neu lernen, hierfür einzutreten. In Zeiten von Internet, Gentechnik und "Big-Brother-Formaten" müssen wir neue Antworten auf die Frage suchen, was uns Privates und Persönliches wert ist. Haben wir die richtigen Antworten gefunden, dann bleibt "Big Brother" als TV-Format nichts anderes als seichte Unterhaltung und im wirklichen Leben ein beherrschbares Risiko. Deshalb kann "Big Brother" für alle, denen am Schutz der Privatsphäre trotz größer gewordener Bedrohung gelegen ist, nur ein Ansporn zu einem entschiedenen "Jetzt erst recht" sein. Die Container von Köln können nicht die Modellstadt für eine demokratisch verantwortbare Informationsgesellschaft sein.





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