Volkszählung: Statistische Notwendigkeit oder gläserner Bürger?
Deutschland will sich, so die rot-schwarze Vereinbarung, am EU-weiten Zensus 2010/2011 beteiligen. Dies schlägt schon 5 Jahre zuvor Wellen. Eine Illusion sollten sich die Befürworter einer neuen Volkszählung nicht machen: Die Deutschen würden sich heute gerne durchleuchten lassen. Dies zeige sich schon daran, dass sie per Kredit- und Kundenkarten, Handy und Online-Einkauf ihre persönlichen Daten preisgäben. Die Deutschen sind sensibler was den Schutz ihrer informationellen Selbstbestimmung, was den Datenschutz betrifft als Angehörige anderer Nationalitäten. Eine Erklärung hierfür ist die schmerzhafte Erfahrung mit zwei Überwachungsstaaten. Liegt das Nazideutschland auch schon 60 Jahre zurück, die Stasi-Bespitzelung ist noch keine 20 Jahre her. Die deutsche Sensibilität erklärt sich auch mit den positiven Erfahrungen beim Widerstand gegen die Volkszählungen 1983 bzw. 1987, in denen erfolgreich gesellschaftliche Mitbestimmung bei der informationellen Selbstbestimmung eingefordert wurde.
Sicherlich hat sich seit den 80ern einiges geändert, nicht aber das Maß der Sensibilität. Es gibt ein Grundrecht auf Datenschutz. Dessen Schutz wurde - vorneweg durch das Volkszählungsurteil von 1983 - vom Bundesverfassungsgericht in vielen Urteilen konkretisiert. Elektronische Datenverarbeitung ist nicht mehr ein staatliches Privileg, sondern Alltag für die meisten Bundesbürgerinnen und -bürger. So ist das Misstrauen gegen den volkszählenden Staat auch nicht mehr so groß: Die erkämpften Standards des Datenschutzes - Abschottung der Statistik, Zweckbindung, verfahrensrechtliche Sicherung, Gesetzesvorbehalt, Transparenz - würden die Statistiker diesmal wohl schon aus Vernunftgründen einhalten.
Ob die Volkszählung nötig ist, um zu wissen, wieviel Menschen in Deutschland wo und wie leben, hierüber mag man unterschiedlicher Meinung sein. Es ist nun einmal die Aufgabe der Statistiker, möglichst genaue Zahlen zu haben. Deshalb aber eine Voll-Volkszählung durchzuführen, wie in den 80ern, wäre statistischer und ökonomischer Unsinn. Es gibt inzwischen wirksamere und kostengünstigere Methoden, an die nötigen Daten heranzukommen. Daher macht es viel Sinn, über den "registergestützten Zensus" nachzudenken. Dabei würden die vorhandenen Daten z.B. aus den Einwohnermeldeämtern, der Bundesagentur für Arbeit oder der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte auf statistischer Ebene, d.h. pseudo- oder anonymisiert, zusammengespielt. Nur noch ergänzend würden Stichproben-Interviews mit den Menschen direkt durchgeführt. In Ländern mit qualifizierten Verwaltungs-Datenbanken funktioniert ein solcher Register-Zensus schon heute sehr gut, etwa in den Niederlanden oder in den skandinavischen Staaten.
Gegen den Register-Zensus wird eingewandt, unsere Verwaltungsregister seien zu fehlerhaft. Dies mag sein. Es gibt aber keinen Grund, diesen beklagenswerten Zustand beizubehalten. Tatsächlich macht es sehr viel Sinn, die Richtigkeit unserer Datenbanken zu verbessern. Doch darf dabei nicht der gleiche Fehler gemacht werden wie Anno 1983: die begründeten Sorgen und Ängste der Menschen müssen ernst genommen werden. Bei einer Registerbereinigung muss der Datenschutz der Bürgerinnen und Bürger beachtet werden. Dies bedeutet: Einbeziehung der Betroffenen, keine Koppelung der Datenkorrektur mit Sanktionen, Beachtung der Zweckbindung, keine zentralen zweckübergreifenden Datenbestände.
Das Problem besteht darin, dass in den bundesweiten Verwaltungsdateien bisher der Datenschutz zumeist ganz klein geschrieben worden ist. Für die Bundesagentur für Arbeit ist dieser Begriff bisher ein Fremdwort geblieben. Das alte Bundes-Wirtschaftsministerium wollte über das JobCard-Verfahren ein gewaltige Einkommensdatenbank der gesamten abhängig beschäftigten deutschen Bevölkerung schaffen, was definitiv verfassungswidrig wäre. Schon beschlossen ist eine einheitliche Steuer-Identifizierungsnummer, die die Menschen von der Geburt bis in den Tod begleitet und die als Personenkennzeichen genutzt werden kann. Auch dieses ist, so die derzeit einhellige Überzeugung, verfassungswidrig. Bei der Schaffung von E-Government-Standards, etwa der Einführung des biometrischen Passes und Ausweises, hat sich die Bundesregierung bisher nicht wirklich um den Datenschutz geschert. Hier muss sich etwas ändern.
Demonstriert die Bundesregierung, dass sie es bei ihren Verwaltungsdateien mit der informationellen Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger ernst meint, so wird sie auch eine Qualitätsverbesserung ihrer Register erreichen; ein Register-Zensus ist dann ebenso wenig ein Problem wie die Akzeptanz der Bevölkerung für eine Volkszählung. Allein: Der rot-schwarze Koalitionsvertrag ist kein Beleg dafür, dass die neue Bundesregierung diese Lektion schon kapiert hat. Sie muss erst noch ihre Hausaufgaben machen.
Dr. Thilo Weichert ist Landesbeauftragter für den Datenschutz und damit Leiter des
Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein (ULD)Der Text wurde Ende November 2005 erstellt für die Studierendenzeitschrift
"Ruprecht" an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg