3: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze
Podiumsdiskussion "Mit dem eCall ins Herstellermonopol? Wettbewerbspolitische Verwerfungen durch Missbrauch einer Notfalleinrichtung"
Beitrag von Thilo Weichert, Leiter des ULD, zum
Goslar Diskurs anlässlich des Verkehrsgerichtstags 2012
in Goslar am 26.01.2012
Am 08.09.2011 gab die Kommission der Europäischen Union (EU) eine Empfehlung "zur Unterstützung eines EU-weiten eCall-Dienstes in elektronischen Kommunikationsnetzen für die Übertragung bordseitig ausgelöster 112-Notrufe ("eCalls")" ab. Darin empfiehlt die EU-Kommission "gemeinsame technische Lösungen und Verfahren für die Bereitstellung von Notrufdiensten" im Bereich des Kraftfahrzeugverkehrs zu entwickeln, wobei "bei manueller oder automatischer Auslösung von Notrufen an Notrufabfragestellen durch ein bordeigenes Telematikgerät auf alle Anrufe unter der einheitlichen europäischen Notrufnummer 112 ... harmonisierte Bedingungen und Grundsätze" anzuwenden sein sollen (Amtsblatt der EU L 303/46 v. 22.11.2011).
In der Empfehlung bringt die Kommission zum Ausdruck, dass der eCall-Dienst "entsprechend den Empfehlungen der Artikel-29-Datenschutzgruppe konzipiert (wurde), die in dem am 26. September 2006 angenommenen Arbeitsdokument über die Auswirkungen der eCall-Initiative auf den Datenschutz und die Privatsphäre enthalten sind, wonach mit eCall-Geräten ausgestattete Fahrzeuge im Normalbetrieb nicht verfolgbar sein sollten und der vom eCall-Gerät abgesetzte Mindestdatensatz nur die Mindestinformationen enthalten sollte, die für die zweckmäßige Bearbeitung von Notrufen notwendig sind" (Erwägung 10). Sie weist weiterhin auf die geltenden europäischen Datenschutzregelungen und darauf hin, dass diese "jedoch die Nutzung von Standortdaten durch Notdienste ohne Zustimmung des Betroffenen" zulasse. Nötig sei, "dass es transparente Verfahren gibt, nach denen der Betreiber eines öffentlichen Telekommunikationsnetzes oder -dienstes trotz fehlender Einwilligung eines Betroffenen in die Verarbeitung von Standortdaten solche Daten verarbeiten darf, und zwar anschlussbezogen für Einrichtungen, die Notrufe bearbeiten und dafür von einem Mitgliedstaat anerkannt sind (Erwägung 9 der Kommissions-Empfehlung; der Verweis erfolgt auf das Arbeitsdokument der Artikel 29-Datenschutzgruppe "Eingriffe in den Datenschutz im Rahmen der Initiative eCall", angenommen am 26.09.2006, 01609/06/DE, WP 125).
Auf dieses Workingpaper 125 kann zunächst vollinhaltlich verwiesen werden.
Bei der Entwicklung der Initiative eCall kann der Eindruck entstehen, dass das Projekt dazu genutzt werden soll, den Informationstechnik (IT)-Einsatz in Kraftfahrzeugen (Kfz) massiv voranzubringen, was nicht zuletzt auch im Interesse der IT-Industrie liegen dürfte. Von politischer Seite werden immer wieder öffentliche Projekte gestartet, mit denen neben den erklärten inhaltlichen Zielen auch die Ziele der Technologie- und Wirtschaftsförderung verfolgt werden. Diese Vermischung erweist sich nicht immer als funktional, wie sich beim Projekt ELENA der Bundesregierung erwies, mit dem auch die flächendeckende Einführung digitaler Signaturkarten beabsichtigt war. Oder sie können sich stark verzögern, so wie dies bei dem Projekt der elektronischen Gesundheitskarte der Fall ist, mit dem zugleich die Informatisierung der Medizin vorangebracht werden soll.
Zielsetzung der Initiative eCall ist offensichtlich, flächendeckend in Kfz elektronische Systeme zu integrieren, die online per Mobilfunk erreichbar sind, die zugleich eine präzise Lokalisierung per Satellitennavigation (GPS oder Galileo) ermöglichen und eine Sprachein- und -ausgabe erlauben. Derartige Systeme können die Basistechnologie schaffen für eine Vielzahl weiterer Anwendungen. Interessierte Wirtschaftsbranchen können insofern sein: Telekommunikation, Speditions- und Flottenmanagement, Verkehrsplanung, Versicherungen, Kfz-Hersteller, -Händler und -Werkstätten, Pannendienste, Automobilclubs, Werbewirtschaft, Tourismus, Internetwirtschaft. Interessant können die Daten auch für Behörden sein, nicht zuletzt für Finanzbehörden und die Polizei. Denkbar ist, dass auf ein standardisiertes System Applikationen (Apps) aufgesetzt werden, die dem Fahrzeughalter bzw. -nutzenden zusätzlich zum Notrufdienst angeboten werden.
Hinsichtlich des eCall-Systems ist klargestellt, dass sowohl eine manuelle wie auch eine automatische Aktivierung möglich sein soll. Eine Anonymität der Fahrzeuge ist nicht vorgesehen, vielmehr soll die Fahrzeugkennung zentraler Bestandteil eines Mindestdatensatzes sein. Es soll im Regelbetrieb keine Dauerverbindung zwischen dem Kfz und Notfalleinrichtungen bestehen. Während gegen eine manuelle Aktivierung eines eCall-Systems aus Datenschutzsicht wenig einzuwenden ist - dies kommt der Absetzung eines Notrufes mit einem Mobiltelefon nahe - hat der Kfz-Halter bzw. der Kfz-Nutzende bei einer automatischen Aktivierung (anlässlich eines tatsächlichen oder vermeintlichen Unfalls oder Notfalls) die Souveränität über seine Daten nur noch begrenzt.
In jedem Fall ist es vorzugswürdig, dass ein Kfz-Nutzender bzw. -Halter nicht rechtlich gezwungen wird, das eCall-System in Betrieb zu nehmen. Dies bedeutet, dass diese freiwillig über den Betrieb entscheiden können sollten, was voraussetzt, dass das System jederzeit aktiviert bzw. deaktiviert werden können muss. Die Freiwilligkeit des Betriebs würde nicht nur durch eine gesetzliche Regelung, die zum Betrieb des Systems verpflichtet, in Frage gestellt, sondern auch durch vertragliche und sonstige ökonomische Zwänge, etwa wenn die Aktivierung zur Bedingung von Versicherungssondertarifen und -konditionen gemacht wird. Insofern ist ein klares Koppelungsverbot hinsichtlich bestimmter Vertragsbeziehungen (z.B. Kfz-Versicherung, Unfallversicherung) nötig, zumindest wenn diese eine existenzielle Bedeutung für die Betroffenen haben und wenn der eCall mit den weiteren Vertragszielen in keinem direkten inhaltlichen Zusammenhang steht. Wünschenswert ist weiterhin, dass die Nutzung des eCall kostenfrei ist, dass also auch die Entscheidung für die Nutzung ausschließlich vom Systemnutzen für die Betroffenen bestimmt wird.
Aus datenschutzrechtlicher Sicht klärungsbedürftig sind Fragen der Verantwortlichkeit: wer ist verantwortlich für die Datenverarbeitung, für die Auslösung eines (automatischen) Notrufes, für bestimmte Systemkomponenten. Dies ist nicht nur wegen der Zulässigkeit der Datenverarbeitung und den Betroffenenrechten von Bedeutung, sondern auch für die Klärung der Haftung für durch einen Notruf ausgelöste Kosten und Folgekosten.
Hinsichtlich der technischen Gestaltung sind Onboard-Systeme von Dienstleistern online betriebenen Systemen vorzuziehen. Vergleichbar zu Verfahren beim Ambient Assisted Living (AAL) sollte beim eCall wie generell bei Kfz-IT-Systemen im Interesse der Datensparsamkeit sichergestellt werden, dass nur relevante und erforderliche Daten die Kfz-IT verlassen. Dies setzt voraus, dass in der Kfz-IT die notwendige Datenaggregierung und -auswertung erfolgt. Abzulehnen sind dagegen Systeme, bei denen die Auswertung der Fahrdaten ganz oder teilweise durch einen externen Dienstleister vorgenommen wird, da dies der zweckwidrigen Datennutzung förderlich sein kann. Für den Nutzenden muss die Funktionsweise des Onboard-Systems und dessen Handhabbarkeit nachvollziehbar und leicht verständlich sein.
Für eine gesetzliche (nationale oder europarechtliche) Verpflichtung zur Nutzung eines eCall-Verfahrens sind derzeit die Voraussetzungen nicht erkennbar. Inwieweit mit dem System tatsächlich durch schnellere Hilfe Todesfälle bzw. Gesundheitskomplikationen verhindert werden können, ist bisher nicht belastbar nachgewiesen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Wirksamkeit nicht nur von systeminternen, sondern auch von externen Faktoren abhängt, also etwa dem im Hintergrund vorgehaltenen Notfallhilfesystem und der flächendeckenden Verfügbarkeit der Mobilfunknetze (insbes. in ländlichen Räumen)
Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines obligatorischen Systems sind nicht nur die direkten Konsequenzen für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einzubeziehen. Zu berücksichtigen ist insbesondere hinsichtlich der automatischen Notrufe, dass damit das Recht von Betroffenen im Rahmen von Sanktionsverfahren, sich nicht selbst belasten zu müssen, tangiert werden kann.
In jedem Fall ist es nötig, den Zweck des eCall-Systems präzise festzulegen. Die Nutzung und Auswertung der Daten kann nicht nur der Nothilfe dienlich sein, sondern wird hinsichtlich des jeweiligen Not- oder Unfalls generell eine hohe Aussagekraft haben und kann straf- wie zivilrechtlich relevant sein. Ob und wie eine solche Nutzung erlaubt wird, ist sicherlich auch für die Akzeptanz eines eCall-Systems von Bedeutung. In jedem Fall mitberücksichtigt werden müssen die Potenziale einer Zweckerweiterung bzw. einer zweckwidrigen Nutzung der Daten (z. B. durch die eingangs erwähnten möglichen Bedarfsträger oder von Dienstleistern).
In diesem Zusammenhang ist der Umfang des erfassten und übermittelten Datensatzes von hoher Bedeutung. Die Grundsätze der Erforderlichkeit und der Datensparsamkeit müssen in jedem Fall streng beachtet werden. In diesem Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob die Erhebung von Gesundheitsdaten oder sonstigen besonders sensiblen Datenkategorien erforderlich und gerechtfertigt sind.
Bei der Entwicklung von eCall-Systemen sind weiterhin eine Vielzahl von weiteren rechtlichen, technischen und organisatorischen Festlegungen vorzunehmen, etwa zur Abschottung der Daten und die Verhinderung unbefugten Zugriffs (Vertraulichkeit), zur Unverfälschbarkeit (Integrität) oder zur Speicherdauer.