Überwachung bringt nichts und macht aggressiv
Dieser Beitrag von Thilo Weichert erschien – in leicht abgeänderter Form – in „Ossietzky“, Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft Nr. 23 vom 18.11.2006, S. 875-877
Es gibt wohl tausende von politischen Deklarationen, behördlichen Forderungen und wissenschaftlichen Untersuchungen, die zu dem Ergebnis kommen, wir bräuchten im Interesse unserer Sicherheit mehr Überwachung, wir bräuchten mehr an Videoüberwachung, an Rasterfahndung, an Datenabgleichen, an biometrischen Kontrollen, an Telekommunikationsdatenspeicherungen ..., um uns vor dem Terrorismus, vor der Organisierten Kriminalität, vor Kinderpornografen ... schützen zu können. Zumeist werden diese Forderungen mit der Behauptung flankiert, gerade derartige Maßnahmen würden nicht nur zu mehr Sicherheit, sondern auch zu einem verbesserten Sicherheitsgefühl führen. Die Grundrechte derjenigen, die nichts zu verbergen hätten, weil sie nichts Böses getan haben, würden nicht betroffen. Deren Daten würden nur kurz gespeichert und dann gleich wieder gelöscht. Das Programm der inneren Sicherheit brächte tatsächlich Sicherheit, innen wie außen, in der Lebenswirklichkeit wie im Gefühl.
Es gab dagegen bisher niemanden, der behauptete, Überwachung brächte nichts und machte aggressiv. Also müssen die politischen Deklarationen, behördlichen Forderungen und wissenschaftlichen Untersuchungen wohl zutreffen! Manchmal liegt die Wahrheit aber nicht in den regierungsoffiziellen Verlautbarungen, die sich auf ihre Bürokratie und ihre Wissenschaft berufen, auch wenn es hierzu keine Gegenverlautbarungen gibt. Manchmal liegt die Wahrheit wo ganz anders. Diese Vermutung kann z.B. aufkommen, wenn wir über den Teich schauen, entweder über den kleinen Teich nach Großbritannien - UK - oder den großen in die Vereinigten Staaten von Amerika - USA. Dort wird seit dem 11. September 2001 ein wahres Überwachungsfeuerwerk abgebrannt. Riesige Datenbanken mit genetischen oder normalen Fingerabdrücken, neue Überwachungsmammutbehörden, elektronische Gesichtsbiometrie auf Ausweisen, Datenbeschaffungen von sämtlichen Flugbewegungen und sämtlichen internationalen Finanztransaktionen, millionenfache Telekommunikationsangaben von Intenet- und Telefonprovidern, Videoüberwachung an jeder Straßenecke - all das hat diese beiden Staaten nicht zu mehr Sicherheit gebracht. Verglichen mit der Kriminalität in diesen beiden Staaten befinden wir uns in Deutschland in einem Land des Friedens und der Gewaltfreiheit, trotz der auch bei uns nie auszurottenden Kriminalität, unter der wir leiden. Aber nicht nur das: Auch das Sicherheitsgefühl will sich bei den Einwohnerinnen und Einwohnern des UK oder der USA nicht so richtig einstellen. Im Gegenteil, je größer die Überwachung wird, desto größer wird die Angst wegen der Unsicherheit, die immer noch besteht. Es sieht fast so aus, als hätten wir es bei diesen beiden Staaten mit zwei kollektiven Überwachungsjunkies zu tun, die davon immer mehr wollen und brauchen, ohne wirklich zufrieden zu sein.
Wir wissen es von den realen Drogen: Dauernd steigender Konsum führt früher oder später zum Tod. Die Übertragung dieser Erfahrung auf die Droge Überwachung ist nur begrenzt möglich. Immerhin: Überwachungsgesellschaften wie die Sowjetunion und der deutsche Nationalsozialismus sind untergegangen. Zuzugeben ist aber auch, dass der Untergang dieser beiden Diktaturen vorrangig andere Ursachen hatte. War es das eine Mal die internationale Auflösung des sowjetischen Machtblockes, war im anderen Fall der zweite Weltkrieg. Wir kennen jedoch eine weitere Überwachungsgesellschaft, bei der die Behauptung, sie sei an ihrer eigenen Überwachung ersoffen, erstickt und schließlich verwest, eine hohe Plausibilität hat: Der Untergang der DDR war ein direktes Produkt der Überwachung ihrer Bevölkerung durch das Ministerium für Staatssicherheit - des MfS. Das MfS - von den Überwachungsopfern fast liebevoll und zugleich verängstigt mit dem Spitznamen „Stasi“ mystifiziert - hatte das Problem, dass es mit der Menge seiner Daten nicht mehr zurechtkam. Die Angst vor ihrer Überwachung verflüchtigte sich mit einem Schlag, als die Menschen merkten, dass die Stasi ihrer Überwachung keine Repression mehr folgen lassen konnte, weil eben zu viele betroffen waren. Ob auch ein Stück Aggression wegen der Stasi-Überwachung dabei war - bei der friedlichen Revolution in der DDR?
Nun mag man sagen, die BRD ist nicht die DDR, und man hat damit recht. Wir haben eben noch nicht so viel von der Überwachungsdroge zu uns genommen. Wohl, doch sehen wir eine Ende auf der nach oben offenen Überwachungsskala? "Ja" rufen da alle Rechtsstaatler und ich mit ihnen: "Das Limit setzt das Bundesverfassungsgericht". Dieses hat doch unseren Regierungen in der jüngeren Vergangenheit eine Entziehungskur nach der nächsten verordnet: War das Volkszählungsurteil 1983 erst eine Ermahnung, so erleben wir jüngst ein eskalierendes Entzugsprogramm: 2004 der große Lauschangriff, 2005 die präventive Telekommunikationsüberwachung von Niedersachsen, 2006 die Rasterfahndung, die Exzesse mit der Droge Überwachung nehmen zu und die verordneten Entzüge auch, sowohl bzgl. zeitlicher Dichte wie auch inhaltlicher Intensität. Was besonders ängstigt: der Patient, lange Zeit noch einsichtig und zur Reha der Grundrechte bereit, wird aufmüpfig. Die Autorität des behandelnden Verfassungsgerichtes wird von unseren Law-and-Order-Protagonisten zunehmend in Frage gestellt. Sie scheuen immer weniger vor dem Vorwurf des Verfassungsignoranten und schon gar nicht des Verfassungsfeindes, wenn sie sich nur mit Überwachungssicherheit besaufen können.
Aber zurück zur Ausgangspunkt. Es gab bisher niemanden, der behauptete, Überwachung brächte nichts und mache aggressiv. So ganz schwarz weiß lässt sich das natürlich weder behaupten noch beweisen. Ein Sprichwort bestätigt sich im Alltag immer wieder: "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser". Ganz ohne Polizei und Finanzamt geht es nicht, keine Frage. Dennoch lohnt es sich, die These des Titels dieses Essays zu vertiefen:
Da wird behauptet, die Sicherheitsbehörden erstickten in ihren Daten. Das mag vorläufig zutreffen. Bei der Anti-Terror-Datei wird das voraussichtlich ein Problem werden. Bei INPOL-neu war es über Jahre ein Problem. Im Polizeialltag ist es ein Dauerproblem. Aber das ist kein Trost: Ob das bei der TK-Vorratsspeicherung in drei, vier Jahren noch so sein wird, ist alles andere als klar. Die Informatiker arbeiten daran, dass das mit dem Ersticken immer weiter hinausgezögert wird: schnellere Geschwindigkeit, riesige Speicherkapazitäten, "intelligentere" Auswertung, einfachere Oberflächen. Die Stasi hatte mit ihren alten Robotron-Geräten einfach noch nicht die richtige Überwachungstechnik.
Dennoch spricht vieles dafür, dass technische Überwachung es nicht bringt: Der Grund liegt in der Technik selbst, die nicht nur ein Überwachungspotenzial birgt, sondern auch ein Anti-Überwachungspotenzial. Gegen das Mitlesen und Abhören von Nachrichten gibt es die Verschlüsselung. Gegen die Speicherung von Verkehrsdaten gibt es weltweit verfügbare Anonymisierungssoftware. Und ob überhaupt Daten gespeichert werden, das lässt sich in mit Zufallsdaten restaufgefüllten verschlüsselten Datencontainern verbergen. Professionelle Kriminelle kennen weitere Strategien, die den Strafverfolgern natürlich auch bekannt sind: wechselnde Handys, Nutzung von Fälschungen, z.B. falschen Kfz-Kennzeichen gegen das Scanning, Identitätsdiebstahl... Wer es darauf gezielt anlegt und die nötige technische Kompetenz hat, der kann sich technischer Überwachung weitestgehend entziehen. Da bleiben den Sicherheitsbehörden die klassischen "sozialen" Ermittlungsmethoden, die dann doch oft genug erfolgreich sind.
Wer in jedem Fall von Überwachungsmaßnahmen erfasst wird, das sind die Arglosen, die sich davor nicht schützen. Das sind in den meisten Fällen aber auch die Unschuldigen, die fälschlich oft vermuten, sie hätten nichts zu verbergen. Manchmal sind sie dann doch verblüfft, was da an Informationen über sie beim Arbeitgeber, bei der Versicherung oder beim Finanzamt gelandet ist. Schlimmer ist aber für die, die „nichts zu verbergen“ haben, dass die technische heimliche und die technische Jedermann-Überwachung zwangsläufig dazu führt, dass es erst mal viele trifft und dass die Sicherheitsbehörden lange Zeit (noch) nicht wissen und vielleicht auch nie erfahren, dass diese Menschen sich nichts zu Schulden haben kommen lassen. Das kann schon Angst machen.
Macht das auch aggressiv? Ich weiß es nicht genau. Ich weiß nur aus persönlicher Erfahrung, dass Überwachung oft geeignet ist, mich einzuschüchtern und dass dabei ausgelöste Furcht auch mal zu Aggression führen kann. Doch sind mir keine wissenschaftlichen Untersuchungen bekannt, inwieweit Überwachung aggressionsfördernd ist. Diese Forschung ist dringend nötig. Wir könnten sonst blind mit unserer Überwachung in eine Sackgasse von Aggression und Gewalt geraten. Eine gewisse Plausibilität hat zweifellos folgende These: Die Überwachung und Ausgrenzung von jungen Moslems mag der Nährboden gewesen sein, der so manchen für fanatische Hasspredigten empfänglich gemacht hat. Es wäre eine äußerst lohnende Aufgabe, sich aus kriminologischer Sicht mit der Frage zu beschäftigen, was die U-Bahn-Attentäter von London zu ihrer Tat gebracht hat. Allseits bekannt ist, dass Videoüberwachung Selbstmordattentäter nicht abschreckt, sondern eher anzieht: Sie können so sicher sein, dass ihre Tat auf allen Fernsehkanälen gesendet werden wird. Aber auch bei weniger final orientierten Terroristen mag die Überwachung Ursache oder Ansporn für ihr kriminelles Tun sein. Mehr Überwachung garantiert nicht automatisch mehr Sicherheit. Begrenzte und gezielte Kontrollen sind, wenn sie intelligent durchgeführt werden, wohl zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung nützlich und nötig. Die derzeit im Schwange befindliche Ausweitung von Geheimmethoden und Jedermannkontrollen sind dies gewiss nicht. Überwachung tendiert dazu, zum Sicherheitsrisiko zu werden.
Dr. Thilo Weichert war von 2004 bis 2015 Landesbeauftragter für den Datenschutz Schleswig-Holstein und damit zugleich Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz in Kiel.