3: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze
Netz ohne Gesetz – Versagt das Recht im World Wide Web?
Vortrag von Dr. Thilo Weichert 21. Deutscher Richter- und Staatsanwaltstag Grenzen des Rechts – Recht ohne Grenzen
Thesen
Das Netz wurde zunächst von vielen als ein Raum unbeschränkter und unbeschränkbarer Freiheit wahrgenommen. Spätestens seit den Enthüllungen von Edward Snowden ist auch der Öffentlichkeit und der Politik klar, dass das Internet auch ein umfassendes Instrument zur Kontrolle und zur Einschränkung von Freiheiten ist. Das Recht hat hierzu noch keine adäquaten Instrumente parat.
Hinsichtlich des materiellen Rechtes gibt es vereinzelte Regelungen, etwa im Urheberrecht, im Zivilrecht, im Verbraucherrecht, im Datenschutzrecht… Hierzu gibt es zunehmend Rechtsprechung. Anders als im analogen Raum liegt diesen Regelungen aber kein konsistentes Netz von Grundrechten zu Grunde. Während der analoge Grundrechtsschutz durch völkerrechtliche Normen, durch Europarecht sowie durch nationale Verfassungen weitgehend reguliert ist, kann dies für den digitalen Grundrechtsschutz bisher nicht einmal ansatzweise behauptet werden. Es liegt insofern ein inkonsistenter Flickenteppich vor. Auf internationaler Ebene kann allenfalls von Flicken gesprochen werden, ein Teppich ist nicht in Sicht.
Dies sei am Beispiel des Datenschutzes, eines fundamentalen digitalen Grundrechts, dargestellt: Zwar gibt es seit den 70er Jahren nationale Datenschutzgesetze, doch wurde erst mit dem Volkszählungsurteil 1983 die Tür zum nationalen (deutschen) Grundrechtsschutz geöffnet, dem mit Verzögerung die europäischen nationalen Rechtsordnungen und dann die europäische Rechtsprechung folgten, bis 2009 eine Normierung in der Europäischen Grundrechtecharta erreicht werden konnte. Eine internationale Anerkennung fand der Datenschutz zwar früh ab 1980 durch die OECD-Leitlinien oder 1981 durch die Europäische Datenschutzkonvention. Deren Ziel war es aber vorrangig, persönlichkeitsrechtliche Schranken beim internationalen Datenverkehr wegzuräumen. Es bedurfte erst der Europäischen Datenschutz-Richtlinie 1996, die durch eine Angemessenheitsregelung beim Datenaustausch effektive Regelungsaktivitäten bei den Ländern auslöste, die an einem personenbezogenen Datenaustausch ein wirtschaftliches Interesse hatten. Dominante Staaten, insbesondere die USA konnten, z. B. mit „Safe Harbor“, Privilegierungen durchsetzen. Andere Staaten, etwa China oder Russland, verweigern sich bis heute erfolgreich vollständig.
Vergleichbare Entwicklungen lassen sich bei anderen Grundrechten mit einem hohen digitalen Anteil feststellen: Meinungs- und Pressefreiheit, Kommunikationsfreiheit, Informationsfreiheit, digitale Versammlungsfreiheit, Petitionsrechte, den digitalen Komponenten analoger Freiheiten (z. B. Religion, Familie, Beruf, Wohnung, Freizügigkeit) sowie dem Gleichheitsgrundsatz (Diskriminierungsverbot z. B. wegen Geschlecht, Abstammung, Herkunft, Glauben).
Unikate geblieben sind originäre explizite digitale Grundrechte, wie z. B. das 2008 vom deutschen BVerfG entwickelte Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme.
Eine institutionelle Absicherung der digitalen Freiheiten ist – teilweise marginal – nur in wenigen Ländern wirksam sichergestellt, etwa durch Datenschutz- und/oder Informationsfreiheitbeauftragte.
Rechtsschutz wird bisher – abgesehen von einzelnen Sektoren in der Europäischen Union – bisher zumeist nur national gewährleistet. Zuständigkeitsregelungen führen oft dazu, dass Datenverarbeiter bestehenden Regelungen effektiv ausweichen können, etwa dank regionaler Vollzugsdefizite und eindeutiger (europäischer) Zuständigkeitsregelungen.
Gegenstrategien zur Wiederherstellung rechtsstaatlicher Defizite können sein:
- Technische Härtung von Systemen,
- Re-Regionalisierung von Datenverarbeitung (z. B. Schengen-Routing),
- Bi- und multilaterale Verträge mit Festlegung von materiellen Rechten, technisch-organisatorische Sicherungen, rechtsstaatlichen Verfahren und Rechtsschutzgewährleistungen (Bspl. Schengenvertrag mit Meistbegünstigung)
- Nationale/regionale Zuständigkeitsregelungen über das Territorialitätsprinzip hinaus,
- Politische, ökonomische oder diplomatische Sanktionierung von Verstößen,
- Völkerrechtliche Verträge (evtl. unter dem Schirm der UNO) mit materiellen Rechten (digitalen Grundrechten) und Konfliktlösungsverfahren.