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Großer Lauschangriff: Schutz der besonderen Berufsgeheimnisse reicht nicht
Zu den bevorstehenden Verhandlungen des Vermittlungsausschusses über die Einführung des Großen Lauschangriffs erklärt der schleswig- holsteinische Datenschutzbeauftragte Dr. Helmut Bäumler:
Großer Lauschangriff: Schutz der besonderen Berufsgeheimnisse reicht nicht
Bei den am 2. März 1998 beginnenden Verhandlungen des Vermittlungsausschusses des Bundestages und des Bundesrates zur Einführung des Großen Lauschangriffs soll offenbar vorrangig über die Herausnahme weiterer Berufsgruppen aus den vorgesehenen Abhörmöglichkeiten gesprochen werden. Es ist auch dringend erforderlich, daß Ärzte, Anwälte und Journalisten ausdrücklich nicht abgehört werden dürfen. Deshalb haben wir deren Berufsgruppen und andere Verbände im "Bonner Appell" zusammengeführt und den Protest gegen den Lauschangriff koordiniert.
Dies allein reicht aber nicht. Das Gespräch im engsten Familienkreis und zwischen Eheleuten ist nicht weniger schützenswert als das Gespräch mit dem Arzt oder dem Anwalt. Auch Eheleute und Verwandte haben ein Zeugnisverweigerungsrecht, das durch heimliche Abhörmaßnahmen ausgehöhlt werden würde. Überdies wäre es ein unerträglicher Eingriff in die Privatsphäre, wenn staatliche Stellen selbst in Schlafzimmern abhören dürften.
Der Bundesgerichtshof hat klargestellt, daß das Gespräch zwischen Eheleuten zum unantastbaren Bereich gehört und daß es mit der Menschenwürde nicht vereinbar wäre, wenn der Staat für sich in Anspruch nehmen könnte, die im engsten Familienbereich geführten Gespräche zu kontrollieren. Der Sächsische Staatsgerichtshof hat gefordert, daß es innerhalb von Wohnungen Räume geben müsse, die zum absolut geschützten Bereich privater Lebensführung gehören. In diesem Bereich könnten auch "schwerstwiegende Interessen der Allgemeinheit" einen staatlichen Eingriff nicht rechtfertigen.
Diese Aspekte sind in der bisherigen Diskussion zum Lauschangriff nicht berücksichtigt worden. Einschränkungen der Abhörmöglichkeit bei Ärzten, Journalisten und Anwälten sind zwar zu begrüßen. Sie reichen aber unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht aus, denn der Schutz der Privatsphäre und der Menschenwürde ist damit allein nicht gewährleistet.
Dieser darf nicht einfach unter den Tisch fallen, weil Eheleute und Familien keine mächtigen Interessenverbände mobilisieren können, die sich um ihren Schutz bemühen. Es ist deshalb Aufgabe der Datenschutzbeauftragten, auf diese Gesichtspunkte besonders hinzuweisen.
Anlage: Vorabauszug aus dem 20. Tätigkeitsbericht des Landesbeauftragten für den Datenschutz, der am 24.03.1998 der Öffentlichkeit vorgestellt wird.
Auszug aus dem 20. Tätigkeitsbericht des Landesbeauftragten für den Datenschutz Schleswig-Holstein
2.2 Orwell steht wieder auf der Tagesordnung
Im Jahre 1970 hatte das Bundesverfassungsgericht über die im Zuge der Notstandsgesetze neu eingeführten Bestimmungen zum Abhören von Telefonen zu entscheiden. Mit der knappen Mehrheit von nur einer Stimme ließ das Gericht damals die Gesetze passieren. In der Begründung der unterlegenen Richter findet sich folgender Satz: ".. ob der mit der Verfassungsänderung vollzogene erste Schritt auf dem bequemen Weg der Lockerung der bestehenden Bindungen nicht Folgen nach sich zieht, vermag niemand vorherzusehen." Rückblickend zeigt sich tatsächlich, daß, nachdem der Damm einmal gebrochen war, die staatlichen Abhörmöglichkeiten kontinuierlich erweitert und von Jahr zu Jahr stärker in Anspruch genommen wurden. Hier die Fakten:
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Seit dem Urteil ist der Katalog der Straftaten, bei deren Aufklärung Telefone
- abgehört werden dürfen, 16mal erweitert worden und umfaßt jetzt
- über 20 neue Tatbestände gegenüber der Ursprungsfassung.
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Von 1990 bis 1996 stieg die Zahl der Anordnungen, Telefonanschlüsse abzuhören, von 2 494 auf 6 428. Von diesen Abhörmaßnahmen sind tausende von Menschen betroffen, die Telefongespräche über die abgehörten Anschlüsse geführt haben. Allein in einem Fall wurden z. B. über 120 000 Telefongespräche auf der Grundlage einer einzigen Anordnung abgehört.
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1992 erhielt die Polizei zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität erstmals die Befugnis, nichtöffentliche Gespräche außerhalb von Wohnungen abzuhören und aufzuzeichnen.
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1994 wurde der Bundesnachrichtendienst ermächtigt, zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität den internationalen Fernmeldeverkehr über Funkstrecken (also die Mehrzahl der grenzüberschreitenden Telefonate) vollständig und ohne konkreten Strafverdacht abzuhören sowie nach bestimmten Suchbegriffen auszuwerten.
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Seit der Digitalisierung des Telefonverkehrs in den letzten Jahren können die nunmehr vollständig aufgezeichneten Verbindungsdaten auf der Grundlage des Fernmeldeanlagengesetzes "in strafgerichtlichen Verfahren" verwendet werden.
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1996 verpflichtete das Telekommunikationsgesetz die privaten Telekommunikationsanbieter, den Sicherheitsbehörden (also auch den Geheimdiensten) einen Online-Zugriff auf die Kundendaten zu eröffnen. Er muß so gestaltet sein, daß die Anbieter den Datenabruf durch die Sicherheitsbehörden nicht bemerken können.
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Durch das Telekommunikations-Begleitgesetz von 1997 wurden die privaten Telekommunikationsanbieter auch verpflichtet, den Sicherheitsbehörden das Abhören von Telefongesprächen zu ermöglichen. Sie haben außerdem folgende Verbindungs- und Bestandsdaten zur Verfügung zu stellen, wenn eine richterliche Abhörgenehmigung vorliegt:
- Die vom überwachten Anschluß angewählten Rufnummern und Zusatzdienste sowie die Nummern der Anschlüsse, die den überwachten Anschluß angewählt haben, auch wenn keine Verbindung zustande kommt,
- Rufumleitungen oder -weiterschaltungen,
- bei überwachten Mobilanschlüssen die Funkzellen, über die die Verbindung abgewickelt wird, d. h. den ungefähren Standort des Benutzers,
- Uhrzeit, Datum und Dauer der Verbindung bzw. des Verbindungsversuches.
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1997 wurde das Bundeskriminalamtgesetz dahingehend geändert, daß das Bundeskriminalamt im Rahmen der Strafverfolgung zur Eigensicherung seiner Beamten Gespräche auch in Wohnungen abhören und aufzeichnen darf. Dies kann geschehen, solange sich ein Beamter in der Wohnung aufhält, aber auch "in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang". Außerdem können heimlich Bildaufzeichnungen hergestellt werden. Anschließend dürfen diese Aufzeichnungen zur Strafverfolgung verwendet werden.
Alles in allem wurde in den vergangenen Jahren der Leitsatz aus der Begründung zum TKG-Begleitgesetz (BT-Drucks. 13/3776), wonach "insgesamt die lückenlose, flächendeckende und standortunabhängige Überwachung der Telekommunikation gewährleistet" sein müsse, zielstrebig in die Tat umgesetzt.
Von dieser Flut von Abhör- und Überwachungsbefugnissen blieb als letztes Refugium nur die Privatwohnung verschont, weil das Bundesverfassungsgericht klargestellt hat, daß das Abhören von Privatwohnungen ein Eingriff in die verfassungsrechtliche Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung ist.
Art. 13 Grundgesetz (GG) gab dem Staat allerdings bereits in seiner bisherigen Fassung eine Eingriffsbefugnis zur Abwehr schwerer Gefahren für wichtige Rechtsgüter. Auf dieser Grundlage haben die Länder in den vergangenen Jahren in ihren Polizeigesetzen Abhörbefugnisse auch in Wohnungen verankert. Die Palette reicht von eng an der Verfassung orientierten Regelungen wie der schleswig-holsteinischen bis hin zu Ländern, in denen das Abhören von Wohnungen sogar zur "Vorbeugung" gegen Vergehen erlaubt wurde. 1996 entschied der Bundesgerichtshof, daß die nach den Landespolizeigesetzen zum Zwecke der Gefahrenabwehr bei Abhörmaßnahmen aus Wohnungen gewonnenen Daten auch für Zwecke der Strafverfolgung verwendet werden dürfen.
Diese schleichende Aushöhlung von Art. 13 GG wurde bei der Diskussion über die Einführung des Großen Lauschangriffs nicht etwa kritisiert, sondern umgekehrt als Argument für das Gegenteil genutzt: Man dürfe doch ohnehin nach den Landespolizeigesetzen in vielen Fällen abhören, da sei eine fehlende Abhörbefugnis für Zwecke der Strafverfolgung doch geradezu anachronistisch. Nachdem Bundestag und Bundesrat Art. 13 GG geändert haben und dadurch die Ermächtigung zum Erlaß einfachgesetzlicher Abhörbefugnisse geschaffen ist, ist keineswegs das Ende der Entwicklung erreicht. Vielmehr steht zu befürchten, daß eine neue Spirale in Gang gesetzt wurde.
Schon der erste Gesetzentwurf zur Ausführung von Art. 13 GG hält sich nicht an den Wortlaut des Grundgesetzes. Während nach der Neufassung von Art. 13 GG das Abhören von Wohnungen nur bei "besonders schweren Straftaten" zulässig ist, sieht das Abhörgesetz dies schon bei einfachem Bandendiebstahl vor. Obwohl das Gesetz mit der Überschrift "Organisiertes Verbrechen" operiert, enthält es in seinem Straftatenkatalog auch eine Reihe von Staatsschutzdelikten, die mit "Organisiertem Verbrechen" nichts zu tun haben. Es steht zu erwarten, daß in den kommenden Jahren der Straftatenkatalog eher erweitert als verkürzt wird. Wann immer eine Straftat in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt, wird der Ruf nach der erneuten Ausweitung der Abhörmöglichkeiten ertönen. Die Forderung, daß in Privatwohnungen nicht nur Abhörmikrofone, sondern auch geheime Videokameras installiert werden dürfen, liegt bereits auf dem Tisch.
Bei der Diskussion über die Einführung des Großen Lauschangriffs spielte die Frage des Schutzes besonderer Vertrauensverhältnisse eine große Rolle. Zunächst ließ die Bundesregierung verlauten, das sei gar kein Problem, die besonderen Vertrauensverhältnisse seien selbstverständlich gewahrt. Wir konnten in unserer Stellungnahme aber belegen, daß nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes dem keineswegs so war. In der Folge wurden zunächst Geistliche, Abgeordnete und Strafverteidiger vom Lauschangriff ausgenommen. Im Vermittlungsausschuß ging es vornehmlich um die Erweiterung des Kreises der Berufsgruppen, die aufgrund ihres Zeugnisverweigerungsrechts ausgenommen werden sollten.
Bislang wurden aber zwei Dinge übersehen, die in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden müssen: Die Zeugnisverweigerungsrechte sind nicht nur durch das Abhören von Wohnungen und Praxen gefährdet, sondern auch durch andere heimliche Ermittlungsmethoden, die in den vergangenen Jahren eingeführt worden sind. So könnte beispielsweise durch einen in eine Anwaltskanzlei, Arztpraxis oder Redaktion eingeschleusten V-Mann das Zeugnisverweigerungsrecht der dort Tätigen umgangen werden. Es geht also um mehr als nur um die Gefährdung dieser Vertrauensverhältnisse durch den Großen Lauschangriff.
Kaum zur Sprache gekommen ist bislang, daß auch Eheleute und andere Verwandte ein Zeugnisverweigerungsrecht haben. Sie verfügen freilich nicht über "Berufsverbände", die öffentlichen Druck machen können. Noch 1983 hatte aber der Bundesgerichtshof klipp und klar festgestellt: "Die Unterhaltung zwischen den Eheleuten ist (diesem) unantastbaren Bereich zuzurechnen. Mit der Menschenwürde läßt es sich nicht vereinbaren, wenn der Staat für sich in Anspruch nehmen könnte, die im engsten Familienbereich geführten Gespräche zu kontrollieren." 1996 traf der Sächsische Staatsgerichtshof folgende Feststellung: "Es gibt Räume innerhalb von Wohnungen, die zu diesem absolut geschützten Bereich privater Lebensführung gehören. Es muß Räume geben, in die sich der einzelne so zurückziehen kann, daß er unangetastet von jeglicher staatlichen Einmischung seine Vorstellung von Leben nach seinem Belieben verwirklichen kann und in denen er über sein Verhalten keiner staatlichen Stelle Rechenschaft schuldet und von der Obrigkeit völlig in Ruhe gelassen werden muß. In diesem Bereich vermögen auch schwerstwiegende Interessen der Allgemeinheit oder gar einzelner einen staatlichen Eingriff nicht zu rechtfertigen."
Diese Aspekte wurden in der bisherigen Diskussion über den Großen Lauschangriff so gut wie gar nicht gesehen, geschweige denn wurden sie im Gesetz berücksichtigt. Es wird wohl dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleiben, sie zur Geltung zu bringen. Da sie den Schutz der Menschenwürde betreffen, können sie auch durch ein verfassungsänderndes Gesetz mit 2/3-Mehrheit nicht entkräftet werden.
Die Diskussion um den Großen Lauschangriff wird also weitergehen. Sie hat bislang schon dazu geführt, daß viele Betroffene hellhörig geworden sind. Ständige Erweiterungen staatlicher Eingriffsbefugnisse zu Lasten der Privatsphäre werden künftig nicht mehr so lautlos über die Bühne gehen wie in den vergangenen Jahren. Politik und Gesellschaft werden sich mit vagen Aussagen derart, der Lauschangriff werde bestimmt "etwas bringen", auch wenn er kein "Wundermittel" sei, nicht mehr zufriedengeben. Wir brauchen endlich objektive, wissenschaftlich bewertete Zahlen über das tatsächliche Ausmaß der Bedrohung durch die Organisierte Kriminalität. Außerdem müssen wir wissen, in welchem Umfang die im Laufe der letzten Jahre kontinuierlich eingeführten neuen Eingriffsbefugnisse angewandt worden sind, wie viele Personen davon betroffen waren und welche Resultate erzielt wurden. Die Diskussion über den Großen Lauschangriff hat jedenfalls gezeigt, daß George Orwells Vision vom Überwachungsstaat von vielen etwas voreilig als erledigt angesehen wurde.