Freitag, 19. November 1999

3: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze

Probleme der Videoaufzeichnung und -überwachung aus datenschutzrechtlicher Sicht

Vortrag von Dr. Helmut Bäumler auf dem 8. Wiesbadener Forum Datenschutz am 19. November 1999 in Wiesbaden

1. Video - das Überwachungsinstrument schlechthin

Da mich der neue Hessische Datenschutzbeauftragte, Herr Prof. von Zezschwitz, eingeladen hat, etwa 30 Minuten zu referieren, verbietet sich die wohlfeile Feststellung, Videoüberwachung und -aufzeichnung seien schon deswegen kein datenschutzrechtliches Problem, weil sie bis heute nicht im Bundesdatenschutzgesetz geregelt sind. Nein, gerade darin liegt eines, aber ich betone nur eines der Probleme. Leider ist das Bundesdatenschutzgesetz generell technologisch veraltet und beschreibt schon lange nicht mehr das ganze Feld datenschutzrechtlicher Konfliktlagen.

Kein Zweifel: Videoüberwachung und -aufzeichnung berühren die Kernfragen des Persönlichkeitsrechts weit mehr als herkömmliche Datenerhebung und Datenspeicherung. Denn während diese einzelne Aspekte der Person, wohlgeordnet zumeist in Datenfeldern, betrifft, erfaßt jene den Menschen als Ganzes, macht sein Verhalten umfassend transparent und kontrollierbar. Die Videotechnik ist zudem aus den verschiedensten Gründen die Überwachungstechnik schlechthin, denn sie läßt den Überwacher im Verborgenen agieren, während sie den Überwachten in das Licht der Kameras taucht. Sie ist die Industrialisierung der Observation und macht - wer einmal eine polizeiliche Observation zu organisieren hatte, weiß wie personalaufwendig das ist - die systematische Beobachtung von Personen im großen Stil erst möglich.

Reden wir nicht von Phantasien, sondern betrachten wir uns die Realitäten dort, wo sie unserer Wirklichkeit ein Stück voraus sind, nämlich in England. Dort sind hunderttausende von Videokameras im Einsatz, ganze Londoner Stadtbezirke werden flächendeckend überwacht. Bemerkenswert ist aber nicht nur die Zahl der Kamerasysteme, sondern die Qualität der Überwachung, die sie ermöglichen. Sie übertragen Bilder keineswegs nur oder zeichnen sie auf Bändern auf; sie sind mit Software zur automatischen Gesichtserkennung gekoppelt, so daß sie gesuchte Personen erkennen und im weiteren Verlauf gezielt verfolgen können.

Die an der Universität Leeds entwickelte "Thinking camera" kann noch mehr: Sie unterscheidet zwischen Gut und Böse. Ihre künstliche Intelligenz reicht immerhin so weit, daß sie erkennen kann, wie Menschen sich in bestimmten Situationen - sagen wir in einem Parkhaus - üblicherweise verhalten. Weicht das Benehmen davon über einen Toleranzwert hinaus ab, gibt das System "Alarm" und rät seinen Betreibern, sich mit der betreffenden Person etwas näher zu befassen. Niemand wird sich wundern, daß so vor allem Minderheiten und Außenseiter ins Visier geraten.

Großbritannien ist übrigens Weltmeister bei der Videoüberwachung. Simon Davies, der Direktor von Privacy International hat vor kurzem auf der Sommerakademie in Kiel den englischen Weg mit klarer Präzision beschrieben: Zuerst wurde nur beobachtet, dann wurde versucht, kriminelles Verhalten zu erkennen und am Ende steht die Kontrolle des Sozialverhaltens: Wer sich anders als die meisten anderen verhält, muß zumindest erklären, warum das so ist.

Ein anderer Trend scheint aus den USA zu uns herüberzukommen: Dort werden immer häufigerKinder mit Videokameras überwacht. Manch böswilliges Kindermädchen konnte schon mit Hilfe von Videoaufzeichnungen der Kindesmißhandlung überführt werden. Ob Kindergärtnerinnen ihren Job gut machen, kann man auf diese Weise auch ganz problemlos überwachen. Schließlich ist es doch auch zum besten unserer Kinder, wenn wir stets mit einem Auge beobachten können, was sie gerade auf dem Spielplatz tun. Psychologen und Pädagogen könnten sicher eine Menge dazu sagen, was Kinder viel mehr brauchen als die Fürsorge einer Kameralinse. Ich frage mich vor allem: Welche Sorte von Staatsbürgern wächst da heran, die von Kindesbeinen an daran gewöhnt sind, daß ihre vorgesetzte Instanz sie auf Schritt und Tritt heimlich beobachten kann? Wie soll sich gesundes demokratisches Selbstbewußtsein gegen die Staatsmacht entwickeln, wenn diese mit Hilfe ihrer tausenden von Videokameras alles beobachten und registrieren kann?

Wie wohltuend klingt da die heile Welt des Bundesverfassungsgerichts, das im Volkszählungsurteil die denkwürdigen Sätze in Marmor gemeißelt hat:

"Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, daß etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und daß ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist."

Scheinbar sind wir von englischen Verhältnissen noch weit entfernt, tatsächlich ist es aber nur ein Katzensprung. By the way, zu den Kunden englischer Videofirmen gehört seit Jahren dieVolksrepublik China, die den Platz des himmlischen Friedens, und nicht nur diesen, mit umfassender Videotechnik beglückt hat. Noch heute, so kann man lesen, werden einzelne Aktivisten des Studentenaufstandes vor zehn Jahren mit Hilfe der Videobänder identifiziert. Aber China ist noch viel weiter als England von uns entfernt.

Befassen wir uns also mit dem Videoeinsatz vor der eigenen Haustür. Bislang hat sich dieRechtsprechung vornehmlich mit der Videoüberwachung auf Privatgrundstücken befaßt. Zur Ausübung des Hausrechts ist demnach die Videoüberwachung grundsätzlich zulässig. Aber die Veränderungen zwischen Staat und Gesellschaft führen dazu, daß die Grenzen zwischen privatem Hausrecht und öffentlichem Raum buchstäblich fließend geworden sind: Man verläßt die Straße, ein Tritt auf die Rolltreppe und schon ist man in der privaten Ladenpassage. Welche öffentlichen Verkehrsanlagen gehören eigentlich wem? Gelegentlich ist vielleicht die Mautpflicht ein Indiz dafür, daß man auf einer Privatstraße fährt, aber welches Video-Recht soll dort gelten? Sollen wir, wenn die Grenzen ohnehin fließend geworden sind, dann dem Staat das gleiche zubilligen wie jedem Hausbesitzer: Soll er alle ihm gehörenden Grundstücke mit Video überwachen dürfen?

Ich meine, daß dies der falsche Weg wäre, der der besonderen Funktion der öffentlichen Verkehrsfläche für Meinungs- und Bewegungsfreiheit, für Freiheit schlechthin, nicht gerecht würde. Eher müßte man sich umgekehrt fragen, ob man den Videoeinsatz auf Privatgrundstücken tatsächlich nur als einen Vorgang der Ausübung des Hausrechts betrachten kann. Die Frage jedenfalls, wieviel Videoüberwachung wir uns auf öffentlichen Flächen in Deutschland erlauben oder leisten können, ohne daß die Freiheit in diesem Land großen Schaden nimmt, ist sicher ein zentrales datenschutzrechtliches Thema.

Deshalb Dank an die Veranstalter, daß sie dieses Thema gewählt haben und, der guten Tradition dieses hessischen Datenschutzforums folgend, eine Plattform für seine Diskussion zur Verfügung stellen. Sie müssen nicht glauben, daß ich mir nicht einzelne sinnvolle Videoanwendungen vorstellen könnte oder daß mich im geringsten die Sympathie mit Straftätern umtreibt, die wegen fehlender Videoüberwachung durch die Maschen schlüpfen. Ich bin Datenschutzbeauftragter und habe mich - gewissermaßen schon von Amts wegen - um die Privatsphäre zu sorgen. Die Überwachungsargumente mögen andere mit anderen Aufgaben vortragen.

 

2. Das technische Umfeld der Videoüberwachung

Bevor ich zu der Frage komme, welche datenschutzrechtlichen Positionen zum Videoeinsatz aus meiner Sicht in Betracht kommen, erscheint es mir notwendig, das technologische Umfeld der Videoüberwachung näher zu betrachten.

Zunächst einmal ist festzustellen, daß die Videotechnik an denselben Trends teilhat wie die Computer schlechthin: Sie wird immer kleiner, billiger und leistungsfähiger. Damit eröffnen sich ständig neue Perspektiven für den heimlichen Einsatz auch kleinster Kameras. Die Verbilligung führt dazu, daß es Millionen von Kameramännern und -frauen gibt. Sie gestalten mit ihren Aufnahmen inzwischen ganze Fernsehsendungen und wenn gelegentlich als Zufallsprodukt ein Verbrechen aufgeklärt werden kann, freut man sich natürlich.

Bei so vielen Videobildern entsteht, wenn sie nicht Spielerei oder Selbstzweck bleiben sollen, naturgemäß der Zwang zur Auswertung. Je mehr Videobilder, desto knapper die Aufmerksamkeit der Auswerter. Das Problem wird derzeit auf zwei Wegen gelöst: "Thinking cameras" filtern aus der Bilderflut Auffälliges heraus, auf das sich dann das weitere Vorgehen konzentrieren kann. Übrigens erhielt ein in Deutschland entwickeltes Gesichtserkennungsprogramm vor kurzem den ersten Preis bei einem Wettbewerb der Forschungseinrichtungen der amerikanischen Streitkräfte. Oder aber man nutzt die Vorteile der Globalisierung auch hier. Aus Amerika war zu hören, daß daran gedacht wird, Videobilder aus amerikanischen Vorgärten in asiatische Billiglohnländer zu übertragen, so daß z. B. in Bangladesch ein Überwacher vor einer riesigen Wand mit Bildschirmen sitzt und darauf achtet, ob irgendwo ein Einbruch oder sonstige Unannehmlichkeiten drohen.

Damit wären wir bei der zweiten wichtigen technischen Rahmenbedingung: Die Möglichkeiten der Bildübertragung sind immens, im eigentlichen Sinn des Wortes unbegrenzt. Weltweit sind Videobilder im Internet übertragbar und tatsächlich verfügbar. Gelegentlich stehen Web-Cams auf irgendeiner Straßenkreuzung in Buenos Aires oder in Schleswig, manchmal aber auch in Küchen oder Schlafzimmern. Das Netz macht es auch möglich, die Ferienwohnung in, sagen wir Südfrankreich, permanent bequem von zu Hause aus zu überwachen. Das ist für Einbrecher genauso schlecht wie etwa für ungetreue Ehepartner. Manche meinen, schon in wenigen Jahren werde die Web-Cam zur Standardausrüstung jedes Internet-PC gehören.

Zum Thema Bildübertragung gehören auch Satellitenbeobachtungssysteme, die in der Lage sind, auch aus großer Entfernung scharfe Bilder zu liefern, ohne daß die Betroffenen auch nur ahnen können, daß sie im Bild festgehalten werden. Derzeit ist von Satellitenbeobachtung neben dem traditionellen militärischen Sektor vor allem in Zusammenhang mit Grundstücks-Kataster- und Planungsfragen die Rede. Es bleibt abzuwarten, wie lange es dauern wird, bis Satellitenaufnahmen auch unmittelbar zur Beobachtung von Menschen eingesetzt werden.

Schließlich müssen wir auch die Entwicklung der Biometrie im Auge behalten. Die Digitalisierung und damit maschinelle Vergleichbarkeit des menschlichen Bildes ist so weit entwickelt, daß Zugangs- und Überwachungssysteme gezielt Personen herausfinden und entsprechende Aktivitäten auslösen können. Erst dieser heutige Entwicklungsstand der Biometrie, insbesondere natürlich der Bild- und Mustererkennung, macht die Überwachung im großen Stil möglich. In Bilddatenbanken lassen sich beliebige Vergleichsbilder vorhalten, mit denen Videobilder abgeglichen werden können. Es ist eben keine Utopie mehr, daß Videoüberwachungsanlagen mit Fahndungs- und Beobachtungsdatenbanken verknüpft werden und damit die automatisierte Fahndung ermöglichen. England, so ist zu lesen, praktiziert dies bereits.

Im Ergebnis wird dadurch unsere Physiognomie zu einer Art Personenkennziffer. Man muß den Namen einer Person gar nicht kennen. Es reicht, den digitalen Referenzwert des Gesichts zu haben, um die Person auch aus großen Datenbeständen herauszufiltern. Das Sortiermerkmal für Datenbanken, z. B. über Verhaltensweisen und Lebensgewohnheiten wird das Gesicht. Meine Phantasie reicht im Moment noch nicht aus mir vorzustellen, welche Konsequenzen sich daraus für uns alle schon in absehbarer Zukunft ergeben können.

Müßig zu erwähnen, daß natürlich auch die Technik der Tonaufzeichnung nicht stehengeblieben ist. Abhörmikrofone stehen heute in kleinsten Abmessungen und bei gleichwohl guter Tonqualität zur Verfügung. Neulich war zu lesen, an der Universität von Berkeley seien kleine Miniroboter erfunden worden, die unter anderem zum Abhören eingesetzt werden können. Sie sind nicht größer als ein Staubkorn und heißen sinnigerweise Smart-Dust, schlauer Staub. Die Erfinder meinen, besonders wirkungsvoll sei die Überwachung, wenn man gleich ein paar Dutzend davon in die Luft sprühe. Spionagefachleute sind, so ist zu hören, begeistert von Smart-Dust und das Pentagon als Auftraggeber hochzufrieden.

Videoüberwachung muß heutzutage also keineswegs mehr als Stummfilm darben. Hierbei zeigt sich übrigens eine merkwürdige Inkonsequenz des Gesetzgebers: Die Aufnahme und Verbreitung des nichtöffentlich gesprochenen Wortes ist nach § 201 StGB strafbar, die Verbreitung von Videobildern aus der Privatsphäre nach § 33 Kunst- und Urhebergesetz ebenfalls. Letzteres ist aber ein Antragsdelikt und der Strafrahmen ist Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, während die Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes mit bis zu drei Jahren Freiheitsentzug, wenn der Täter ein Amtsträger oder aber für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter war, sogar bis zu 5 Jahren. Nicht nur an dieser Stelle fällt auf, daß Verletzungen der Privatsphäre in Deutschland strafrechtlich nicht mit der Konsequenz verfolgt werden, die man bei Losungen wie "zero tolerance" oder "broken windows" eigentlich erwarten könnte.

Selbstredend verfügen moderne Videokameras über allerlei nützliche Eigenschaften wieAusschnittvergrößerung, Standbild, Zeitlupe und automatische zeitliche Zuordnung, die Aussagen wie, es handele sich doch eigentlich nur um eine Fortsetzung der Beobachtung mit dem menschlichen Auge mit anderen Mitteln, ad absurdum führen. Übrigens bringt es die Digitalisierungvon Videobildern mit sich, daß deren Fälschung und Manipulation immer leichter wird. In dem Moment, in dem Videotechnik in vielen Fällen als Beweismittel in Strafverfahren in Betracht kommen könnte, müssen sich die Gerichte zunehmend mit der Frage auseinandersetzen, welchen Beweiswert sie tatsächlich haben.

Wir sehen also die Videotechnik eingebettet in eine technologische Landschaft, in der ihre Möglichkeiten erst so richtig zum Erblühen gebracht werden. Vieles davon erinnert frappierend an George Orwells "1984".

 

3. Die Position des Datenschutzes

Wie soll man sich als Datenschützer zu einer solchen Entwicklung stellen, die bislang, von einzelnem Unbehagen abgesehen, noch keineswegs zu großen Massenprotesten geführt hat? Im Gegenteil, Umfragen zeigen sogar, daß sich viele Bürger im Schutz von Videokameras eher sicher fühlen. Hartnäckige - wenngleich erwiesenermaßen unzutreffende - Legenden wie die, daß die Entführer und Mörder des kleinen James Bulgar in England mit Hilfe der Videobilder aus einer Einkaufspassage gefunden werden konnten, nähren die Hoffnung, Videotechnik könne ein entscheidendes Instrument zur Verhinderung und Verfolgung von Straftaten sein. Wer hätte sich nicht schon einmal gefreut, wenn ein hartgesottener Straftäter oder prügelnde Polizisten von einer Videokamera überführt wurden, mit der sie nicht gerechnet hatten.

Manche sehen in der Videotechnik gar eine durch und durch demokratische Technik, weil sie "Transparenz von unten" ermögliche und Bilder auch dort zur Verfügung stelle, wo die traditionellen Medien nicht präsent seien.

Also: Wer es mit der Videotechnik aufnehmen will, hat es zunächst mit einer für viele Menschensympathischen Technik zu tun, die ihnen das Gefühl von Sicherheit und Transparenz vermittelt. Schwierig ist die Diskussion auch deswegen, weil die einzelnen Videoanwendungen für sich gesehen häufig vernünftig und überzeugend anmuten. Sie sind in der Regel eine Reaktion auf begangene oder mit guten Gründen zu befürchtende Straftaten. Keine einzelne Videokamera führt wirklich zum Super-Gau für die Privatsphäre.

Noch haben wir Plätze und Platz genug, uns unbeobachtet zu bewegen. Und doch müssen wir denschleichenden Prozeß im Auge behalten. Gerade die Datenschutzbeauftragten - wer sonst? - dürfen sich, um eine Anleihe aus der Wirtschaftswissenschaft zu machen, mit der "betriebswirtschaftlichen" Betrachtungsweise der Vorteile des einzelnen Videoeinsatzes nicht zufrieden geben, sondern müssen auf die "volkswirtschaftlichen Kosten" für unseren freiheitlichen Rechtsstaat hinweisen. Deshalb muß gerade bei der Videotechnik stets nach den Folgen für das Ganze gefragt werden, auch wenn der einzelne Einsatz für sich gesehen gut begründbar ist. Damit wird aber zugleich die ganze Schwierigkeit der Argumentation aufgezeigt: Die Videotechnik begegnet uns nicht als dunkles "Gesamtkunstwerk" des Überwachungsstaates, sondern in kleinen appetitlichen Häppchen, gegen die sich isoliert nur schwer argumentieren läßt.

 

4. Hinweise für den datenschutzrechtlichen Umgang mit Videodaten

Die datenschutzrechtliche Herangehensweise an die Videotechnik muß deshalb geprägt sein von sehrgrundsätzlichen Positionen. Die gängigen Argumentationsmuster und Bewältigungsstrategien eignen sich bei diesem Thema nur sehr bedingt. Mir scheint, daß folgende Aspekte im Mittelpunkt unserer Überlegungen stehen sollten:

  1. Natürlich ruft man als Datenschutzbeauftragter zuerst nach präzisen Rechtsgrundlagen für den Videoeinsatz. Die Videotechnik ist allerdings ein Problem, das mit den Mitteln der Gesetzgebung allein nicht in den Griff zu bekommen ist. Gesetzliche Regelungen, ob sie nun im allgemeinen Datenschutzrecht oder in den bereichsspezifischen Gesetzen verankert werden, müssen notgedrungen allgemein sein. Im Polizeirecht hat es in den vergangenen Jahren aus Gründen, die ich jetzt nicht vertiefen kann, eine derartige Aufweichung der gesetzlichen Tatbestände gegeben, daß man auf diesem schwankenden Boden rechtsstaatliche Pfeiler nur noch schwer verankern kann. Wo sollen bitteschön die vorhersehbaren Grenzen eines Videoeinsatzes zu Zwecken der "vorbeugenden Straftatenbekämpfung" liegen? Wann und wo drohen in dieser Risikogesellschaft eigentlich keine Straftaten? Ein Polizeirecht, dem längst die Unterscheidung zwischen Störern und Verdächtigen auf der einen Seite und unbescholtenen Dritten auf der anderen Seite abhanden gekommen ist, wird kaum die Instrumente an die Hand geben, um die Videoaufzeichnung auf Verdächtige zu konzentrieren.

    Man muß sogar befürchten, daß gesetzliche Erlaubnistatbestände im Polizei- und Strafverfahrensrecht eher zu einer weiteren Zunahme der Videoüberwachung führen werden, weil Unsicherheiten oder andere Hemmungen künftig wegfallen. Wo der Gesetzgeber bislang versucht hat, möglichst präzise Normen zu schaffen, wie etwa im Versammlungsbereich, ist einzuräumen, daß die Polizei vermutlich Recht hat, wenn sie beklagt, diese Vorschriften seien in der Praxis kaum handhabbar. Es trifft ja zu, daß sich die Videokamera nur sehr widerwillig, wenn überhaupt, an die Marschroute hält, nur den Verdächtigen zu erfassen. Ein zweites datenschutzrechtliches Paradigma, nämlich die Beschränkung des Datenumfangs auf das erforderliche Maß, ist ebenfalls kaum einzuhalten: Die Kamera erfaßt das pralle Leben wie es sich vor ihrer Linse abspielt und filtert nicht die überflüssigen Daten weg.

    Damit möchte ich mich keineswegs gegen gesetzliche Regelungen der Videoüberwachung aussprechen - im Gegenteil. Aber mir schwant, daß es bei gesetzlichen Videovorschriften nur einen schmalen Grat zwischen: "zu weit, zu unbestimmt" und "zu kompliziert, nicht praktikabel" gibt. Man könnte es natürlich einfach so machen wie unser Nachbarland Dänemark, wo die Videoüberwachung schlicht und einfach gesetzlich verboten ist.

  2. Entscheidend muß sein, auf jeden Fall die Transparenz zu verbessern. Videokameras müssen, wenn sie nicht in engen Grenzen ausdrücklich zu verdeckten Ermittlungen eingesetzt werden dürfen, deutlich erkennbar sein und einen ebenso deutlichen Hinweis haben, wer hinter ihnen steckt. An jedem Zigarettenautomat steht, an wen man sich wenden kann, wenn er nicht funktioniert. Das muß im übertragenen Sinn auch für Videokameras gelten.

    Dies alles nützt aber nichts, wenn es nicht eine Instanz gibt, an die sich der Betroffene zur Wahrung seiner Interessen wenden kann. Nach Lage der Dinge könnten dies die Datenschutzbeauftragten sein. Bei dem Durcheinander von öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Kameras möchte man den Bürgerinnen und Bürgern wünschen, daß es in Deutschland bald eine einheitliche, bürgerfreundliche Organisation der Datenschutzkontrolle gibt und nicht komplizierte Abgrenzungsnormen.

    Das wäre aber erst die halbe Miete. Maßgeblich ist darüber hinaus, daß diese Datenschutzkontrolle personell und technisch überhaupt in der Lage ist, z. B. nachzuvollziehen, ob Videoaufzeichnungen gefertigt, kopiert, ausgewertet und Personen zugeordnet, übermittelt oder gelöscht worden sind. Gemessen an den Herausforderungen der Informationsgesellschaft - die Videotechnik ist nur ein Teil davon - ist die Ausstattung der Datenschutzkontrolle in Deutschland geradezu skandalös. Dies ist keineswegs nur en passant gemeint, sondern hängt mit meinem Thema genuin zusammen.

    Zum Thema Transparenz würde ich übrigens auch periodische Berichte über die Zahl und das Einsatzgebiet von Videokameras zählen, denen eine entsprechende Meldepflicht - verbunden mit einer Vorabkontrolle - zugrundezulegen wäre. Ein Videoregister wäre mindestens ebenso wichtig wie ein Dateienregister.

  3. Generell sollten beim Einsatz der Videotechnik datenschutzfreundliche Technikvariantenbevorzugt werden. Da nach allgemeiner Auffassung die Speicherung von Videobildern gegenüber der bloßen Beobachtung mit der Videokamera der gravierendere Eingriff ist, sollten kurze, strikt am Erforderlichkeitsprinzip orientierte Speicherfristen gelten. Hier ist der automatischen Löschung der Vorzug zu geben, die allenfalls durch Eingriffe in begründeten Einzelfällen verhindert werden kann.

  4. Schließlich, und damit komme ich zum entscheidenden Problem, müssen die Datenschutzbeauftragten deutlich machen und auch ihren Beitrag dazu leisten, daß es in Deutschland nicht nur eine Nachfrage nach Sicherheit, sondern auch nach Freiheit undPrivatsphäre gibt. Und sie müssen klarmachen, daß letzteres nicht unbegrenzt verfügbar, sondern in den vergangenen Jahren immer wieder eingeschränkt worden ist. Jede videoüberwachte öffentliche Fläche ist ein Stück weniger Raum, in dem man sich frei von Beobachtung bewegen kann. Auf diese Zusammenhänge müssen die Datenschutzbeauftragten stets hinweisen und damit das Thema Videoüberwachung sehr grundsätzlich angehen. Denn auf der Ebene der einzelnen Kamera wird es immer schwer sein, ein zwingendes Gegenargument zu formulieren. Datenvermeidung und Datensparsamkeit sind als wichtige Prinzipien des Datenschutzes gerade im Bereich der Videoüberwachung angebracht.

    Der Gesellschaft sollte bewußt werden, daß hunderttausende von Videokameras, von denen jede einzelne noch so gut rechtlich und faktisch begründbar ist, eine Struktur schaffen, die Gift für Freiheit und Demokratie sein kann. Deshalb muß die Debatte über Videotechnik im öffentlichen Raum sehr entschlossen und grundsätzlich geführt werden. Auf diesem Weg sollte an der Entstehung eines allgemeinen Bewußtseins für die Kostbarkeit der Privatsphäremitgewirkt werden, das deren schrittweiser Aushöhlung, auch bei im Einzelfall vielleicht beachtlichen Argumenten, entgegentritt.

  5. Schließlich sollten wir deutlich machen, daß wir den Einsatz staatlicher Videokameras inprivaten Wohnungen entschieden und kompromißlos ablehnen. Hier würde eine Schmerzgrenze überschritten, die jedenfalls ein Datenschutzbeauftragter auf keinen Fall akzeptieren kann. Mag es noch so viele bizarre Einzelfälle geben, bei denen Videokameras in Privatwohnungen denkbar, hilfreich, nützlich oder erforderlich sein könnten: Jeder sollte wissen, daß er hier mit dem geschlossenen und entschiedenen Widerstand der Datenschutzbeauftragten rechnen muß. Und die Bürgerinnen und Bürger sollten sich darauf verlassen können, daß wir ihre Privatsphäre in dieser Frage entschlossen verteidigen.

Wir leben sicher in einer Zeit, in der die rasche Entwicklung der Informations-technik auch zuVeränderungen der Anschauungen und Werte führt. Dies gilt auch für den Stellenwert von Bildaufzeichnungen und für die Frage, wieviel von ihrem Privatleben die Bürgerinnen und Bürger bereit sind offenzulegen. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus, was Menschen alles in Talkshows vor Fernsehkameras erzählen. Nur gut, daß sich bekanntlich niemand solche Sendungen ansieht, so daß gar kein Risiko für die Privatsphäre besteht.

Befremdlich ist für einen Datenschützer auch, wie nahe manche im Internet Webkameras an ihrPrivatleben heranlassen. Mag sein, daß die Einstellungen zu Video- und Fernsehbildern sich tatsächlich ändern. Aber es ist immer noch ein großer Unterschied, ob Menschen - aus welchen Motiven auch immer - so etwas freiwillig tun, oder ob man sich auf öffentlichen Straßen und Plätzen zwangsläufig und unentrinnbar im Erfassungsbereich von Videokameras befindet.

Viele Menschen verfolgen die Ausbreitung der Videotechnik deshalb mit unverändertem Unbehagen, auch wenn sie einer einzelnen Maßnahme durchaus zustimmen. Daraus ableiten zu wollen, die Bürgerinnen und Bürger hätten gar kein Interesse mehr, nicht auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden, halte ich für reine Spekulation.

Ich möchte es bei diesen allgemeinen und eher grundsätzlichen Anmerkungen zur Videoüberwachung belassen. Dabei bin ich mir bewußt, daß einzelne Varianten des Videoeinsatzes durchaus der Vertiefung, ja vielleicht eine eigene Tagung wert wären. Ich nenne etwa:

  • Den Videoeinsatz bei der Polizei zur Gefahrenabwehr, zur Vorbeugung gegen Straftaten sowie zur Strafverfolgung.

  • Die Überwachung von Arbeitnehmern am Arbeitsplatz zur Verhaltens- und Leistungskontrolle oder zur Aufklärung strafbarer Handlungen.

  • Die Herstellung von Videoaufnahmen ganzer Straßen und Städte zum Zwecke der kommerziellen Nutzung.

  • Der Videoeinsatz als biometrisches Identifizierungs-, Authentifizie- rungs-, Klassifizierungs- und Selektionsverfahren.

Diese und andere Beispiele des Einsatzes der Videotechnik werden sicher in der weiteren Diskussion noch näher zu beleuchten sein. Mir kam es aber entscheidend darauf an, über die Diskussion von Details nicht die grundsätzliche Richtung der Entwicklung aus den Augen zu verlieren.

 

Dr. Helmut Bäumler war  von 1992 bis 2004 Landesbeauftragter für den Datenschutz in Schleswig-Holstein.