5: Stellungnahmen
Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerden zum "Großen Lauschangriff"
Der Große Lauschangriff lässt von dem unantastbaren Kernbereich des Art. 13 GG kaum noch etwas übrig. Er berührt die Privatheit in höchstem Maße und belässt dem Einzelnen nicht mehr die grundgesetzlich garantierte private Rückzugsmöglichkeit. Dabei muss die Regelung im Kontext mit den in den Jahren zuvor stetig verschärften strafermittlungsrechtlichen Eingriffsbefugnissen betrachtet und es muss bedacht werden, dass weitere Begehrlichkeiten folgen werden, ohne dass die Erforderlichkeit für die zurückliegenden Gesetzesverschärfungen bereits abgeklärt ist. Die von der Bundesregierung in Aussicht genommene Vergabe von Forschungsaufträgen zur Gewinnung weiterer Erkenntnisse über die Anwendung des Instruments kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass vor Schaffung dieses neuen Eingriffsinstruments eine objektive Rechtstatsachenanalyse hätte durchgeführt werden müssen, um die Erforderlichkeit und Eignung nachvollziehbar zu begründen. Die Regelungen zur Durchführung des Großen Lauschangriffs sind deshalb aus den in der Stellungnahme dargelegten Gründen insgesamt als verfassungswidrig abzulehnen.
Stellungnahme
des Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit, des Landesbeauftragten für den Datenschutz Bremen, des Hamburgischen Datenschutzbeauftragten, des Landesbeauftragten für den Datenschutz Mecklenburg-Vorpommern, des Landesbeauftragten für den Datenschutz Niedersachsen, der Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit Nordrhein-Westfalen sowie des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein
zu den beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe anhängigen Verfassungsbeschwerden
- BvR 2378/98 -
- 1 BvR 1084/99 -
(Art. 13 Abs. 3-6 in der Fassung von Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 26.03.1998, BGBl I S. 610;
Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität vom 04.05.1998, BGBl I S. 845)
(”Großer Lauschangriff”)
I. Grundsätzliche Erwägungen gegen den Lauschangriff
Gegenüber dem bisherigen Instrumentarium der Strafermittlungsbehörden weist der Große Lauschangriff zweifellos eine neue Qualität auf. Er schränkt die für die Verwirklichung des Persönlichkeitsrechts und eines menschenwürdigen Lebens unverzichtbare Möglichkeit ein, sich in eine Wohnung zurückzuziehen, sich darin frei zu entfalten und von jedermann unbeobachtet zu kommunizieren. Anders als beim staatlichen Zugriff auf die Telekommunikation, auf den Briefverkehr oder auf Gespräche, die in der Kneipe oder auf der Straße geführt werden, gibt es vor der Überwachung von Gesprächen in Wohnungen schlechterdings keine weitere Rückzugsmöglichkeit für den Betroffenen. Bereits die Existenz einer Rechtsgrundlage für den Großen Lauschangriff, auch wenn sie im Einzelnen durchaus rechtsstaatlich ausgestaltet wäre, führt daher zu einer tieferen Erschütterung der engsten Privatsphäre des Bürgers als die bisherigen Ermittlungsinstrumente.
Vor den daraus folgenden gesellschaftlichen, psychologischen wie auch vor den verfahrensrechtlichen Auswirkungen des Großen Lauschangriffs im Einzelnen ist deshalb ausdrücklich zu warnen. Wenn sich die Bürgerinnen und Bürger selbst im Wohn- oder Schlafzimmer nicht sicher sein können, dass staatliche Behörden nicht jedes Wort mithören, wird sich auch ihr Verhältnis zum Staat ändern. In unserer Gesellschaft, deren informationelle Dichte und Komplexität den Bürgerinnen und Bürgern ohnehin kaum noch Sicherheiten für die Wahrung ihrer Privatsphäre belässt, steigt die verfassungsrechtliche Wertigkeit der ”Unverletzlichkeit” der Wohnung. Der unantastbare Kernbereich von Art. 13 GG wurde vom Bundesverfassungsgericht bereits in einer früheren Entscheidung (BVerfGE 27,1) wie folgt beschrieben: ”Dem Einzelnen muss um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen ein Innenraum verbleiben, in dem er sich selbst besitzt und in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt”.
Der große Lauschangriff berührt ein sich dramatisch verknappendes persönliches und gesellschaftliches Gut, die Privatheit, in ihren letzten Refugien, und damit höchste verfassungsrechtliche Maßstäbe. Was kann vom Wesensgehalt des Art. 13 GG noch übrig bleiben, wenn sämtliche Lebensäußerungen in der ”unverletzlichen” Wohnung staatlich belauscht werden können, weil sich ”vermutlich” ein Beschuldigter in ihr aufhält? Auch auf der Stufe der verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung ergeben sich erhebliche Zweifel, ob die in der Gesetzesbegründung angeführte Bedrohung durch die Organisierte Kriminalität gegenüber der Privatheit des in Wohnungen gesprochenen Wortes überwiegen kann, da die Hauptzielrichtung des vorliegenden Gesetzes gerade nicht die Gefahrenabwehr ist.
Art. 13 GG gab dem Staat allerdings bereits in seiner bisherigen Fassung eine Eingriffsbefugnis zur Abwehr schwerer Gefahren für wichtige Rechtsgüter. Auf dieser Grundlage haben die Länder in den vergangenen Jahren in ihren Polizeigesetzen Abhörbefugnisse auch in Wohnungen verankert. Die Palette reicht von eng an der Verfassung orientierten Regelungen wie der schleswig-holsteinischen bis hin zu Ländern, in denen das Abhören von Wohnungen sogar zur ”Vorbeugung” gegen Vergehen erlaubt wurde. 1996 entschied der Bundesgerichtshof, dass die nach den Landespolizeigesetzen zum Zwecke der Gefahrenabwehr bei Abhörmaßnahmen aus Wohnungen gewonnenen Daten auch für Zwecke der Strafverfolgung verwendet werden dürfen.
Diese schleichende Aushöhlung von Art. 13 GG wurde bei der Diskussion über die Einführung des Großen Lauschangriffs nicht etwa kritisiert, sondern umgekehrt als Argument für dessen Zulassung genutzt: Man dürfe doch ohnehin nach den Landespolizeigesetzen in vielen Fällen abhören, da sei eine fehlende Abhörbefugnis für Zwecke der Strafverfolgung doch geradezu anachronistisch. Nachdem Bundestag und Bundesrat Art. 13 GG geändert haben und dadurch die Ermächtigung zum Erlass einfachgesetzlicher Abhörbefugnisse geschaffen ist, ist keineswegs das Ende der Entwicklung erreicht. Vielmehr steht zu befürchten, dass die Spirale weiter in Gang gehalten wird.
Schon das erste Gesetz zur Ausführung von Art. 13 GG hält sich nicht an den Wortlaut des Grundgesetzes. Während nach der Neufassung von Art. 13 GG das Abhören von Wohnungen nur bei ”besonders schweren Straftaten” zulässig ist, sieht das Abhörgesetz dies schon bei einfachem Bandendiebstahl vor. Obwohl das Gesetz mit der Überschrift ”Organisiertes Verbrechen” operiert, enthält es in seinem Straftatenkatalog auch eine Reihe von Staatsschutzdelikten, die mit ”Organisiertem Verbrechen” nichts zu tun haben.
Es steht zu erwarten, dass in den kommenden Jahren der Straftatenkatalog eher erweitert als verkürzt wird. Wann immer eine Straftat in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt, wird, wie schon seit Jahren, der Ruf nach der erneuten Ausweitung der Abhörmöglichkeiten ertönen. Die Forderung, dass in Privatwohnungen nicht nur Abhörmikrofone, sondern auch geheime Videokameras installiert werden dürfen, liegt bereits auf dem Tisch.
Das vorliegende Gesetz ist das Dritte in einer erst 1992 mit dem OrgKG begonnenen und 1994 durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz fortgesetzten Reihe von fundamentalen Ausweitungen des polizeilichen Ermittlungsinstrumentariums, die alle mit der Bedrohung durch die Organisierte Kriminalität begründet wurden.
Ohne dass vor oder nach der Schaffung der jeweils neuen Eingriffsinstrumente eine objektiveRechtstatsachenanalyse durchgeführt und die Erforderlichkeit und Eignung solcher Instrumente nachvollziehbar begründet worden wäre, wurde der Lauschangriff gefordert, weil die gerade erst geschaffenen Instrumente bereits versagt hätten (vgl. S. 30, 31 der Begründung). Das Für und Wider speziell des Belauschens von Wohnungen wurde eher kursorisch abgehandelt. Gerade in der Perspektive dieser zurückliegenden Novellen der Strafprozessordnung drängt sich der Eindruck auf, dass mit dem Begründungstopos der Organisierten Kriminalität allzu leichtfertig und ohne Rechenschaft über die praktische Anwendung der Ermittlungsmaßnahmen abzulegen höchstrangige Rechtsgüter des Bürgers erneut verkürzt worden sind.
Der Erfahrungsbericht der Bundesregierung zu den Wirkungen der Wohnungsüberwachung durch Einsatz technischer Mittel (Art. 13 Abs. 3-5 GG, § 100 c-f StPO) belegt, dass die Erforderlichkeit dieser Maßnahme bisher in keiner Weise begründet werden kann (s.u. III.). Zudem genügen die bisherigen Berichte nicht den Anforderungen des Art. 13 Abs. 6 GG, weil bei der Benennung des Umfangs der Maßnahmen die von ihnen zufällig mitbetroffenen und damit in ihren Grundrechten massiv tangierten Personen nicht einbezogen werden.
Es spricht vieles dafür, dass der Große Lauschangriff in einigen Jahren von den Strafverfolgungsbehörden selbst als ineffektiv im Kampf gegen die Organisierte Kriminalitätbewertet werden wird und dies dann die Grundlage für weitere Ausweitungen des strafprozessualen Instrumentariums abgibt. Die Eingriffsgrundlagen jedoch werden dann bestehen bleiben und vermutlich in ganz anderen Ermittlungszusammenhängen zur Anwendung gebracht werden, als dies der ursprünglichen Begründung entspräche. Beispiele für eine derartige Verselbständigung von Eingriffsgrundlagen finden sich bereits heute: So wird etwa die Befugnis zur Herstellung von Bildaufzeichnungen nach § 100 c StPO, einst zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität eingeführt, heute u.a. als Rechtsgrundlage für die Videoüberwachung des fließenden Straßenverkehrs herangezogen. Vor der Wiederholung solcher Entwicklungen, die Ausdruck einer schleichenden Erosion rechtsstaatlicher Sensibilität sind, muss nachdrücklich gewarnt werden. Es liegen schlichtweg keine stichhaltigen Argumente dafür vor, dass der Lauschangriff den stets beklagten logistischen Vorsprung der organisierten Täter vor den Ermittlungsbehörden entscheidend verringern wird. Betroffen werden durch ihn vor allem eine Vielzahl von unbeteiligten Personen (s.u. II.) sein, die mit einer Überwachung ihrer Gespräche gar nicht rechnen. Organisierte Kriminelle werden sich der Überwachung auf die verschiedenste Weise und unter Nutzung aller Möglichkeiten, die die grenzüberschreitende Telekommunikation bietet, entziehen.
Ergänzend ist als Anlage die Entschließung der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder vom 24. Juni 2000 - ”Effektive parlamentarische Kontrolle von Lauschangriffen durch aussagekräftige jährliche Berichte der Bundesregierung” - beigefügt.
II. Zu den Einzelheiten der Regelungen der StPO
- Art. 13 Abs. 3 GG lässt die repressive akustische Wohnraumüberwachung nur zur Verfolgung einzeln bestimmter besonders schwerer Straftaten zu. Der in § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO festgeschriebene Straftatenkatalog genügt diesen Anforderungen nicht, da er zahlreiche Vergehen, zum Teil sogar ohne Mindeststrafe, und zudem eine Reihe von Staatsschutzdelikten enthält, die bereits von der gesetzgeberischen Zielsetzung der ”Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität” (BGBl. 1998, 845, so auch die Begründung für die Änderung von Art. 13 GG, s. BT-Dr. 13/8650, 4) nicht gedeckt sind (Rublack in Bäumler, Breinlinger, Schrader (Hrsg.) Datenschutz von A-Z, L 105 S. 1).
Um den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu genügen, müsste der Katalog des § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO auf schwerste Straftaten, welche die Rechtsordnung nachhaltig gefährden, d. h. in jedem Falle auf Verbrechen, eingeengt werden.
- Nicht berücksichtigt wurde ferner die von den Datenschutzbeauftragten verschiedener Bundesländer vorgebrachte Forderung, einen Lauschangriff, wenn seine Einführung schon nicht gänzlich verhindert werden kann, nur bei dringendem Tatverdacht und drohenderAussichtslosigkeit der Ermittlungen, und nicht bloß zum Zwecke der Ermittlung des Aufenthaltsortes des Verdächtigen zuzulassen. Auch insoweit bestehen verfassungsrechtliche Bedenken (Momsen, ZRP 1998, 459, 462). Der Lauschangriff dringt noch tiefer als die bislang bestehenden Instrumente in die Privatsphäre ein und muss daher auch gegenüber jenen Ultima Ratio sein. Dies gilt in besonderem Maße für Eingriffe in Wohnungen Unbeteiligter. Als ”unvermeidbar betroffene Dritte” im Sinne von § 100c Abs. 3 StPO werden zudem alle unverdächtigen Gesprächspartner des Beschuldigten oder in den Räumen anwesenden anderen Personen in ihren Grundrechten betroffen. Die vermeidbare Aufzeichnung der Kommunikation Unverdächtiger ist jedoch zu unterlassen, was ggf. - z. B. bei bekannter Abwesenheit des Beschuldigten - zu einer Abschaltung der Abhöreinrichtungen auch während des Zeitraums der richterlichen Anordnung führen muss (Rublack, a.a.O., S. 2). Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch, dass gegenüber der Telefonüberwachung, wo es ”lediglich” um die Benutzer der überwachten Telefonanschlüsse geht, der Kreis der betroffenen Personen noch deutlich erweitert ist und sich die Ermittlungsmaßnahmen in besonderem Maße letztlich auch gegen gänzlich Unverdächtige richten. Eine verfahrensrechtliche Kontrolle durch die Beteiligten im Nachhinein ist nicht garantiert, sodass ein Verstoß gegen die in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte Rechtsweggarantie vorliegt (Ilse Bechthold, Der Große Lauschangriff: Ende der Privatsphäre in: Müller-Heidelberg, Finckh, Narr, Pelzer (Hrsg), Grundrechte-Report 1998, siehe hierzu auch Ziffer 5).
- Ein weiterer Schwachpunkt der Regelungen zum Großen Lauschangriff liegt in seiner mangelnden Berücksichtigung der Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechte. Der in § 100d Abs. 3 StPO verankerte Kompromiss kann im Ergebnis den schwerwiegenden Einwand, der Lauschangriff unterlaufe den gesetzlichen Schutz von Vertrauensverhältnissen, nicht wirklich ausräumen (Bäumler, DuD 1998, 282, 283). ”In den Fällen des § 53 Abs. 1” StPO, also bei Gesprächen des Beschuldigten mit allen dort genannten Berufsgeheimnisträgern, besteht von vornherein ein Beweiserhebungsverbot, sofern der Zeugnisverweigerungsberechtigte nicht selbst einem Straftatverdacht gem. § 100d Abs. 3 S. 4 StPO unterliegt. Die dort vorgesehene Ausnahme vom Erhebungsverbot ist nur gerechtfertigt, wenn sich die sog. Verstrickung des Berufsgeheimnisträgers wiederum auf eine Katalogtat bezieht. Stellt sich erst nachträglich heraus, dass Gespräche mit Personen gem. § 53 Abs. 1 StPO aufgezeichnet wurden, so muss ein absolutes Verwertungsverbot greifen.
Wesentlich erscheint in diesem Zusammenhang auch Folgendes: Die Zeugnisverweigerungsrechte sind nicht nur durch das Abhören von Wohnungen und Praxen gefährdet, sondern auch durch andere heimliche Ermittlungsmethoden, die in den vergangenen Jahren eingeführt worden sind. So könnte beispielsweise durch einen in eine Anwaltskanzlei, Arztpraxis oder Redaktion eingeschleusten V-Mann das Zeugnisverweigerungsrecht der dort Tätigen umgangen werden. Es geht also um mehr als nur um die Gefährdung dieser Vertrauensverhältnisse durch den großen Lauschangriff. Insgesamt stellt die komplizierte Sonderregelung des § 100 d Abs. 3 StPO kaum mehr als eine ”Schadensbegrenzung” dar. Eine wirksame Gewährleistung des Schutzes der Zeugnisverweigerungsberechtigten erscheint verfassungsrechtlich geboten.
Ein bloßes Beweisverwertungsverbot greift zugunsten der durch § 52 StPO geschützten Angehörigen sowie der Berufshelfer gem. § 53 a StPO, und dies auch nur nach einer entsprechenden Abwägung mit dem Strafermittlungsinteresse. Ein Eingriff in die besonders schützenswerte Privatsphäre der engsten Angehörigen (Art. 6 GG) wird vom Gesetzgeber also zunächst hingenommen und lediglich durch ein evtl. bejahtes Verwertungsverbot abgemildert, das sich allerdings zu einem Erhebungsverbot verdichten kann, wenn ex ante zu erwarten ist, dass sämtliche zu belauschenden Gespräche einem Verwertungsverbot unterliegen (§ 100 d Abs. 3 S. 2 StPO) (vgl. zum Vorstehenden Rublack, a.a.O. mit weiteren Nachweisen).
Mit dieser Wertung berücksichtigt der Gesetzgeber nicht die verfassungsrechtlichen Vorgaben, die der Bundesgerichtshof 1983 in einer Entscheidung (BGHSt 31, 296 ff.) beschrieben hat:”Die Unterhaltung zwischen den Eheleuten ist (diesem) unantastbaren Bereich zuzurechnen. Mit der Menschenwürde lässt es sich nicht vereinbaren, wenn der Staat für sich in Anspruch nehmen könnte, die im engsten Familienbereich geführten Gespräche zu kontrollieren”. 1996 traf derSächsische Staatsgerichtshof folgende Feststellung: ”Es gibt Räume innerhalb von Wohnungen, die zu diesem absolut geschützten Bereich privater Lebensführung gehören. Es muss Räume geben, in die sich der Einzelne so zurückziehen kann, dass er unangetastet von jeglicher staatlichen Einmischung seine Vorstellung von Leben nach seinem Belieben verwirklichen kann und in denen er über sein Verhalten keiner staatlichen Stelle Rechenschaft schuldet und von der Obrigkeit völlig in Ruhe gelassen werden muss. In diesem Bereich vermögen auch schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit oder gar Einzelner einen staatlichen Eingriff nicht zu rechtfertigen” (abgedruckt in NVwZ 1996, 784).
Diese Vorgaben wurden in der bisherigen Diskussion über den Großen Lauschangriff so gut wie nicht gesehen, geschweige denn wurden sie im Gesetz berücksichtigt. Da sie den Schutz der Menschenwürde betreffen, können sie auch durch ein verfassungsänderndes Gesetz mit 2/3-Mehrheit nicht entkräftet werden (Bäumler, a.a.O.).
- Nach § 100 d Abs. 4 StPO ist - bei Vorliegen der Eingriffsvoraussetzungen - eine unbegrenzteVerlängerung der Überwachungsmaßnahme möglich, sofern alle vier Wochen eine erneute Entscheidung des Richtergremiums eingeholt wird. Die bisherige Praxis richterlicher Anordnungen von Telefonüberwachungen zeigt, dass die Staatsanwaltschaft gegenüber dem Gericht einen erheblichen Vorsprung an Informationen und Sachkunde besitzt, der sich dahingehend auswirkt, dass eine Anordnung in den seltensten Fällen abgelehnt wird. Mit zunehmender Dauer steigt die Eingriffstiefe des Lauschangriffs oder einer sonstigen geheimen Überwachungsmaßnahme in die Rechte sämtlicher Betroffenen, da sich immer mehr ein ganzheitliches Bild über ihre Lebensgewohnheiten und -äußerungen ergibt. Die Staatsanwaltschaft muss daher bei einer Verlängerung der Überwachungsmaßnahme erhöhten Begründungspflichten gegenüber dem Gericht unterliegen. Dies kann in der Form erfolgen, dass Rechenschaft über den Umfang der bisherigen Maßnahme, über die dadurch erreichten Ermittlungsfortschritte sowie über die erhofften weiteren Erkenntnisse abgelegt wird. Auch die für das Gericht maßgeblichen Entscheidungsvoraussetzungen im Gesetz sollten wiederspiegeln, dass an die Verlängerung gesteigerte materielle Anforderungen zu stellen sind (die Verlängerung muss dringend erforderlich und im Sinne einer erneuten Relevanzprognose Erfolg versprechend sein).
- Gemäß § 101 Abs. 1 S. 1 StPO sind von einer nach § 100 c Abs. 3 StPO getroffenen Maßnahme unter den dort genannten Voraussetzungen ausschließlich die Beteiligten zu benachrichtigen. Nicht hierunter sollen die nach § 100 c Abs. 3 StPO unvermeidbar zufällig Mitbetroffenen fallen(Meyer-Goßner, StPO-Komm., 45. Aufl. § 101 Rn. 2). Wie bereits unter Ziffer 2. dargestellt, sind durch die akustische Wohnraumüberwachung gerade auch Unbeteiligte bzw. unverdächtige Personen betroffen. Der effektive Schutz der Grundrechte aller durch die Maßnahmen zufällig mitbetroffenen und damit in ihren Grundrechten tangierten Personen gebietet es daher, sie im Wege der verfassungskonformen Auslegung von § 101 Abs. 1 Satz 1 StPO in den Kreis der zu benachrichtigenden Beteiligten einzubeziehen.
- Ungeachtet der oben unter Ziffer 3 dargestellten Probleme der Verwertung von Informationen aus abgehörten Gesprächen in Wohnungen im Hinblick auf die bestehenden Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechte ergibt sich ein weiterer schwerwiegender Mangel: Die Verwertung von Erkenntnissen aus einem repressiven Lauschangriff ist gem. § 100 d Abs. 5 S. 2 StPO zu Beweiszwecken in anderen Strafverfahren nur bei Verdacht einer Katalogtat zulässig; danach ist eine Verwertung als Ermittlungsansatz zur Gewinnung anderweitiger Beweise für eine Nichtkatalogtat jedoch nicht ausgeschlossen (Rublack, a.a.O., S. 3). Die Regelung bleibt damit hinter dem Standard datenschutzrechtlicher Zweckbindungsvorschriften weit zurück.
III. Praktische Erfahrungen mit der akustischen Wohnraumüberwachung
Die Erforderlichkeit der akustischen Wohnraumüberwachung ist bisher nicht überzeugend belegt worden. Dies zeigt eindrucksvoll der Erfahrungsbericht der Bundesregierung zu den Wirkungen der Wohnungsüberwachung durch Einsatz technischer Mittel (Art. 13 Abs. 3 bis 5 GG, § 100 c bis 100 f StPO) vom 30. Januar 2002 (BT-Drs. 14/8155). Insgesamt lässt sich das Fazit ziehen, dass gesicherte Aussagen zur Verfahrensrelevanz, zur Intensität des Grundrechtseingriffs und zu den Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechten nicht getroffen werden konnten. Gleichwohl werden bereits jetzt von einzelnen Ländern weitere Begehrlichkeiten bis hin zur optischen Wohnraumüberwachung zu repressiven Zwecken geäußert.
Wegen besonderer Bedeutung für das verfassungsgerichtliche Verfahren sollen die folgenden Punkte aus dem Erfahrungsbericht betont werden:
- In den Berichtsjahren 1998 bis 2000 wurden in insgesamt 70 Verfahren in 78 Wohnungen akustische Wohnraumüberwachungsmaßnahmen angeordnet und vollzogen. Bemerkenswert ist dabei, dass in rund 58 % (41 von 70 Fällen) der Maßnahmen die daraus gewonnenen Erkenntnisse nicht für das Ermittlungsverfahren von Bedeutung waren. Das hessische Ministerium der Justiz, in dessen Zuständigkeitsbereich in den Berichtsjahren insgesamt 16 Wohnraumüberwachungsmaßnahmen durchgeführt worden sind, hat dazu Folgendes berichtet:
”Zur Frage der Verfahrensrelevanz der gewonnenen Erkenntnisse ergibt die Statistik ein eher ernüchterndes Bild. Danach konnten lediglich in fünf Fällen Informationen erhoben werden, die für den Ausgang des Verfahrens von Bedeutung waren. ... Dazu zählt auch ein Verfahren, in dem die aufgezeichneten Äußerungen in Ansehung des Verdachts eher als ambivalent zu werten waren, eindeutig aber in Bezug zu dem Gegenstand der Ermittlungen standen, ohne dass hieraus be- oder entlastende Schlüsse gezogen wurden. Das Beispiel zeigt, dass eine Erfolgskontrolle unter den Bedingungen des Strafverfahrens Bewertungen verlangt, die einer quantitativen Erhebung nur mit erheblichen Unsicherheiten zugänglich ist” (S. 9 des Berichts).
Die Schlussfolgerung der Bundesregierung, dass soweit andere Gründe als technisches Fehlschlagen für die Erfolglosigkeit verantwortlich seien, dies dem jeder strafprozessualen Ermittlungsmaßnahme anhaftenden Risiko ihrer Irrelevanz für den Verfahrensausgang entspreche, kann angesichts der weitreichenden Folgen für Beschuldigte und Unverdächtige (s. oben I. und II.) nicht nachvollzogen werden. Das vorgelegte Zahlenmaterial ist vielmehr ein deutlicher Hinweis dafür, dass es der akustischen Wohnraumüberwachung zur Aufklärung von Straftaten nicht bedarf. Das eingesetzte Mittel steht in keinem Verhältnis zu dem jeweils erreichten Zweck. Dann ist der Große Lauschangriff aber nicht verhältnismäßig und deshalb verfassungswidrig.
- Anlass für die Einführung der akustischen Wohnraumüberwachung war die Bekämpfung derOrganisierten Kriminalität. Nahezu 90 % der Wohnraumüberwachungsmaßnahmen sind wegen des Verdachts von Tötungs- und Betäubungsmitteldelikten angeordnet worden (S. 5). In einer ganzen Reihe von Katalogstraftaten nach § 100 c Abs. 1 Nrn. 3 a, b, d, f StPO (vgl. die Auflistung auf S. 5 des Berichts) wurden dagegen noch keine Überwachungsmaßnahmen angeordnet; nur ein Teil der bisher geführten Ermittlungsverfahren - genaue Zahlenangaben vermag der Bericht bezogen auf die Gesamtzahl nicht zu geben - hat einen Bezug zur Organisierten Kriminalität gehabt.
Bezeichnend ist die Einschätzung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz:
”Das Institut der akustischen Wohnraumüberwachung ist - trotz der komplizierten Regelung - geeignet, den Informationsfluss innerhalb krimineller Organisationen zu behindern und dürfte innerhalb krimineller Organisationsstrukturen zu einer gewissen Verunsicherung führen. Diese wird allerdings dadurch relativiert, dass bislang nur in geringem Maße Überwachungsmaßnahmen durchgeführt wurden” (S. 10 des Berichts).
Damit zeigt sich, dass das aufgrund des 1992 eingeführten und 1994 durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz fortgesetzten OrgKG ausgeweitete polizeiliche Ermittlungsinstrumentarium vor einer erneuten Ausweitung erst einer Rechtstatsachenanalysehätte unterzogen werden müssen. Die praktische Anwendung der akustischen Wohnraumüberwachung belegt die von den Datenschutzbeauftragten im Gesetzgebungsverfahren zum Großen Lauschangriff vorgetragene Befürchtung, dass höchstrangige Rechtsgüter des Bürgers erneut verkürzt worden sind, ohne zuvor Rechenschaft über die praktische Anwendung der in den vorangegangenen Jahren zuvor neu eingeführten Ermittlungsbefugnisse abzulegen. Es zeigt sich zudem, dass eine Eindämmung des Straftatenkataloges verfassungsrechtlich geboten ist. Hierzu wird auch auf die Ausführungen unter Punkt II. 1. verwiesen.
- Nicht nachvollziehbar ist die Argumentation, die akustische Wohnraumüberwachung sei erforderlich geworden, weil andere Ermittlungsmaßnahmen nicht den gewünschten Erfolg gezeigt hätten (vgl. S. 5 f.). Angesichts der Feststellung unter Punkt 1, wonach in 58 % aller Fälle die aus der Maßnahme der akustischen Wohnraumüberwachung gewonnenen Erkenntnisse nicht von Bedeutung für das Ermittlungsverfahren waren, muss die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der Große Lauschangriff nicht erforderlich ist. In der eigenen Logik dieser Argumentation müssten nun noch weiter eingreifende Ermittlungsmaßnahmen erlaubt werden.
IV. Fazit
Der Große Lauschangriff lässt von dem unantastbaren Kernbereich des Art. 13 GG kaum noch etwas übrig. Er berührt die Privatheit in höchstem Maße und belässt dem Einzelnen nicht mehr die grundgesetzlich garantierte private Rückzugsmöglichkeit. Dabei muss die Regelung im Kontext mit den in den Jahren zuvor stetig verschärften strafermittlungsrechtlichen Eingriffsbefugnissen betrachtet und es muss bedacht werden, dass weitere Begehrlichkeiten folgen werden, ohne dass die Erforderlichkeit für die zurückliegenden Gesetzesverschärfungen bereits abgeklärt ist.
Wie der Erfahrungsbericht der Bundesregierung zu den Wirkungen der Wohnungsüberwachung durch Einsatz technischer Mittel belegt (s. oben III.), hat der Große
Lauschangriff bisher nicht die gewünschten und in Aussicht gestellten Erfolge bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität gebracht. Die im Rahmen des Gesetzgebungsvorhabens geäußerte Befürchtung, dass logistisch gut ausgestattete und international operierende Täterstrukturen als Zielgruppe der geplanten Überwachung sich durch organisatorische Verabredungen, technische Störmanöver oder die Wahl anderer Kommunikationswege auf die Möglichkeit eines Lauschangriffs in Wohnungen einstellen und die erheblichen Aufwendungen zu seiner Vorbereitung vielfach ins Leere laufen lassen, hat sich schon in den ersten drei Jahren seit In-Kraft-Treten des Gesetzes bewahrheitet. Die von der Bundesregierung in Aussicht genommene Vergabe von Forschungsaufträgen zur Gewinnung weiterer Erkenntnisse über die Anwendung des Instruments kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass vor Schaffung dieses neuen Eingriffsinstruments eine objektive Rechtstatsachenanalyse hätte durchgeführt werden müssen, um die Erforderlichkeit und Eignung nachvollziehbar zu begründen.
Die Regelungen zur Durchführung des Großen Lauschangriffs sind deshalb aus den dargelegten Gründen insgesamt als verfassungswidrig abzulehnen.