Samstag, 16. Juli 2005

Law-and-Order-Gebärden sind gefährlich

Beitrag von Thilo Weichert für die Frankfurter Rundschau, Samstag, den 16. Juli 2005, S. 2

Flächendeckende Videoüberwachung, Raster- und Schleierfahndung sind ein unergiebiges Stochern im Heuhaufen. Sie sind teuer und geben Menschen ein trügerisches Gefühl von Sicherheit

Nach dem 11. September 2001 und dem 11. März 2004 wurden nun Sicherheitspolitiker mit den Anschlägen vom 7. Juli 2005 anscheinend Lügen gestraft. Sicherheitspolitiker werden dafür gewählt, dass sie für Sicherheit und Ordnung sorgen. Den Innenministern der Blair-Regierung kann niemand unterstellen, sie hätten nichts getan "im Namen der Sicherheit": Allein im Zentrum von London soll es 500.000 Überwachungskameras geben, in Großbritannien insgesamt um die 7 Millionen. Der Inlandsgeheimdienst MI5 wurde massiv ausgebaut. Ein Gesetz zur Einführung elektronischer Personalausweise wurde gegen erbitterten Widerstand durchgepaukt ... Und nun dieser Terroranschlag!

Die Reaktion des in Not geratenen britischen Innenministers Charles Clarke: "Wir müssen die Menschen überzeugen, dass wir unser Bestes getan haben." Nötig sei der Ausbau von Videoüberwachung, die Speicherung von Telekommunikationsdaten auf Vorrat, die Zusammenführung von Informationen von Geheimdiensten und Polizeien: "Aufklärungsinformationen" seien "die beste Waffe" im Kampf gegen Terrorismus. Diesen Ausweg aus der Not suchen Sicherheitspolitiker in vielen europäischen Ländern. Die italienische Regierung kündigte noch schärfere Anti-Terror-Gesetze an. Und auch in Deutschland forderten Politiker, dass Liberalität nicht über die Sicherheit gestellt werden dürfe. Die erste Reaktion des baden-württembergischen Kollegen auf den 7. Juli war die Verkündung, die Telefonüberwachung zu intensivieren.

Symbolische Gesetzgebung und sicherheitspolitischer Aktionismus mag die Wählerinnen und Wähler erreichen. Terrorismus wird damit nicht wirksam bekämpft. Das Gegenteil ist der Fall: Die rigiden Überwachungsmaßnahmen gegenüber Anhängern des Islam in den europäischen Staaten schüchtern zweifellos viele Betroffene ein. Zugleich führen sie aber auch dauernd islamistischen Gewalttätern ein gewaltiges Potenzial neuer Sympathisanten, Unterstützer und Täter zu. Ein Staat, der seine bürgerrechtlichen und freiheitlichen Versprechungen nicht hält, ist für sie ein "lohnenderes" Ziel als eine Gesellschaftsordnung, die trotz sinnloser brutaler Provokation zivilisiert und rechtstaatlich reagiert.

Law-and-Order-Gebärden sind gefährlich, weil sie bei vielen Menschen das trügerische Gefühl einer Sicherheit suggerieren, die kein Politiker gewährleisten kann. Die einfache aber falsche Logik, Überwachung brächte zwangsläufig mehr Sicherheit, wird hoffähig. Die Terroranschläge geschahen in einem Großbritannien mit mehr als zehnmal so viel Videoüberwachung wie in Deutschland. Sicher kann es Anschläge auch in Deutschland geben. Aber vielleicht blieb unser Land bisher von vergleichbaren Terroranschlägen auch deshalb verschont, weil mit dem Islam nicht die Konfrontation und die Ausgrenzung, sondern die Kommunikation und die Integration gesucht wird. Diesen Weg sollte die deutsche Politik weiter suchen. Flächendeckende Videoüberwachung, die Vorratsdatenspeicherung von Telefon- und Internet-Verkehrsdaten, Raster- und Schleierfahndungen sind nichts anderes als ein aufwändiges, teures und unergiebiges Stochern im Heuhaufen. Diese Maßnahmen schränken die Bürgerrechte vieler oder gar aller Menschen ein, ohne etwas zu bringen. Organisierte, technisch gut ausgerüstete Verbrecher und Terroristen können sich selbst komplexer technischer Überwachung entziehen, Normalbürger dagegen nicht. Letztere laufen dabei schnell Gefahr, durch einen dummen Zufall in den Topf der Terrorverdächtigen gesteckt zu werden. Die klassische Ermittlungsarbeit auf Grund bestehender Gesetze hat in Deutschland zu Aufsehen erregenden Ermittlungserfolgen geführt, hat offenbar sogar Anschläge verhindert. Wir brauchen keine schärferen Gesetze, sondern eine gut ausgestattete, gezielt arbeitende rechtsstaatliche Polizei.

Der britische Innenminister hat mit seinem schrecklichen Satz "Alle Bürgerrechte müssen auf den Prüfstand" eine Grundlage unserer freiheitlichen Gesellschaft in Frage gestellt. Richtig ist, dass um die effektivste Form der Terrorismusbekämpfung gerungen werden muss. Hierfür ist die Evaluation von Befugnissen und deren Nutzung und Ergebnisse wichtig - Maßstäbe sind Effektivität und unsere unveräußerlichen Grundrechte. Sicherheit und Freiheit sind keine Gegensätze. Vielmehr stirbt das Eine mit dem Andern.

 
Dr. Thilo Weichert war von 2004 bis 2015 Landesbeauftragter für den Datenschutz Schleswig-Holstein und damit zugleich Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz in Kiel.